Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Das ganz verwaisete Mädchen.
gen kann. Aber ich will gern alles und noch mehr
für sie thun, um sie zu gewinnen, als ich bey einem
Vater und einer Mutter in dieser Absicht zu thun nö-
thig hätte.

Ueberhaupt darf ich mich in meinen Umständen
weniger auf andere Menschen verlassen. Ich muß mich
bey Zeiten von der Nothwendigkeit überzeugen, in mir
selbst und in den Mitteln, welche du in meine Natur
gelegt hast, die Befriedigung meiner zukünftigen Be-
dürfnisse zu finden. Da ich keine Aeltern habe, die
für mich erwerben und sammlen, so ist es dein Wille,
daß ich mich itzt schon zum Fleiße und zur Arbeitsam-
keit gewöhnen soll. Es ist Pflicht für mich, so viel
nützliches zu lernen, als ich kann, und mich in allen
häuslichen und weiblichen Geschäfften zu üben und zu
vervollkommnen, um einst im Stande zu seyn, selbst
für meinen Unterhalt zu sorgen. Dieß war gewiß
Eine deiner Absichten, warum du mich zur vater-
und mutterlosen Waise machtest. Vielleicht würde
ich durch Reichthum und Ueberfluß träge und un-
thätig geworden seyn. Vielleicht würde ich die
Fürsorge meiner Aeltern gemisbraucht und mei-
nen Geist und Körper durch Weichlichkeit und Nichts-
thun verzärtelt haben. Vielleicht würde ich bey den
besten Anstalten und bey allen Hülfsmitteln, mich
verständig zu machen, unwissend und unbrauchbar für
die Welt geblieben seyn. Vielleicht hätten sich Stolz
und Selbstsucht meines jungen Herzens bemächtiget
und mich von dem Wege der wahren Glückseligkeit ab-
geführt. Vielleicht wäre ich unverträglich, trotzig,
unbiegsam, herrschsüchtig und durch dieses alles früher

oder

Das ganz verwaiſete Mädchen.
gen kann. Aber ich will gern alles und noch mehr
für ſie thun, um ſie zu gewinnen, als ich bey einem
Vater und einer Mutter in dieſer Abſicht zu thun nö-
thig hätte.

Ueberhaupt darf ich mich in meinen Umſtänden
weniger auf andere Menſchen verlaſſen. Ich muß mich
bey Zeiten von der Nothwendigkeit überzeugen, in mir
ſelbſt und in den Mitteln, welche du in meine Natur
gelegt haſt, die Befriedigung meiner zukünftigen Be-
dürfniſſe zu finden. Da ich keine Aeltern habe, die
für mich erwerben und ſammlen, ſo iſt es dein Wille,
daß ich mich itzt ſchon zum Fleiße und zur Arbeitſam-
keit gewöhnen ſoll. Es iſt Pflicht für mich, ſo viel
nützliches zu lernen, als ich kann, und mich in allen
häuslichen und weiblichen Geſchäfften zu üben und zu
vervollkommnen, um einſt im Stande zu ſeyn, ſelbſt
für meinen Unterhalt zu ſorgen. Dieß war gewiß
Eine deiner Abſichten, warum du mich zur vater-
und mutterloſen Waiſe machteſt. Vielleicht würde
ich durch Reichthum und Ueberfluß träge und un-
thätig geworden ſeyn. Vielleicht würde ich die
Fürſorge meiner Aeltern gemisbraucht und mei-
nen Geiſt und Körper durch Weichlichkeit und Nichts-
thun verzärtelt haben. Vielleicht würde ich bey den
beſten Anſtalten und bey allen Hülfsmitteln, mich
verſtändig zu machen, unwiſſend und unbrauchbar für
die Welt geblieben ſeyn. Vielleicht hätten ſich Stolz
und Selbſtſucht meines jungen Herzens bemächtiget
und mich von dem Wege der wahren Glückſeligkeit ab-
geführt. Vielleicht wäre ich unverträglich, trotzig,
unbiegſam, herrſchſüchtig und durch dieſes alles früher

oder
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0064" n="52"/><fw place="top" type="header">Das ganz verwai&#x017F;ete Mädchen.</fw><lb/>
gen kann. Aber ich will gern alles und noch mehr<lb/>
für &#x017F;ie thun, um &#x017F;ie zu gewinnen, als ich bey einem<lb/>
Vater und einer Mutter in die&#x017F;er Ab&#x017F;icht zu thun nö-<lb/>
thig hätte.</p><lb/>
        <p>Ueberhaupt darf ich mich in meinen Um&#x017F;tänden<lb/>
weniger auf andere Men&#x017F;chen verla&#x017F;&#x017F;en. Ich muß mich<lb/>
bey Zeiten von der Nothwendigkeit überzeugen, in mir<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t und in den Mitteln, welche du in meine Natur<lb/>
gelegt ha&#x017F;t, die Befriedigung meiner zukünftigen Be-<lb/>
dürfni&#x017F;&#x017F;e zu finden. Da ich keine Aeltern habe, die<lb/>
für mich erwerben und &#x017F;ammlen, &#x017F;o i&#x017F;t es dein Wille,<lb/>
daß ich mich itzt &#x017F;chon zum Fleiße und zur Arbeit&#x017F;am-<lb/>
keit gewöhnen &#x017F;oll. Es i&#x017F;t Pflicht für mich, &#x017F;o viel<lb/>
nützliches zu lernen, als ich kann, und mich in allen<lb/>
häuslichen und weiblichen Ge&#x017F;chäfften zu üben und zu<lb/>
vervollkommnen, um ein&#x017F;t im Stande zu &#x017F;eyn, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
für meinen Unterhalt zu &#x017F;orgen. Dieß war gewiß<lb/>
Eine deiner Ab&#x017F;ichten, warum du mich zur vater-<lb/>
und mutterlo&#x017F;en Wai&#x017F;e machte&#x017F;t. Vielleicht würde<lb/>
ich durch Reichthum und Ueberfluß träge und un-<lb/>
thätig geworden &#x017F;eyn. Vielleicht würde ich die<lb/>
Für&#x017F;orge meiner Aeltern gemisbraucht und mei-<lb/>
nen Gei&#x017F;t und Körper durch Weichlichkeit und Nichts-<lb/>
thun verzärtelt haben. Vielleicht würde ich bey den<lb/>
be&#x017F;ten An&#x017F;talten und bey allen Hülfsmitteln, mich<lb/>
ver&#x017F;tändig zu machen, unwi&#x017F;&#x017F;end und unbrauchbar für<lb/>
die Welt geblieben &#x017F;eyn. Vielleicht hätten &#x017F;ich Stolz<lb/>
und Selb&#x017F;t&#x017F;ucht meines jungen Herzens bemächtiget<lb/>
und mich von dem Wege der wahren Glück&#x017F;eligkeit ab-<lb/>
geführt. Vielleicht wäre ich unverträglich, trotzig,<lb/>
unbieg&#x017F;am, herr&#x017F;ch&#x017F;üchtig und durch die&#x017F;es alles früher<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0064] Das ganz verwaiſete Mädchen. gen kann. Aber ich will gern alles und noch mehr für ſie thun, um ſie zu gewinnen, als ich bey einem Vater und einer Mutter in dieſer Abſicht zu thun nö- thig hätte. Ueberhaupt darf ich mich in meinen Umſtänden weniger auf andere Menſchen verlaſſen. Ich muß mich bey Zeiten von der Nothwendigkeit überzeugen, in mir ſelbſt und in den Mitteln, welche du in meine Natur gelegt haſt, die Befriedigung meiner zukünftigen Be- dürfniſſe zu finden. Da ich keine Aeltern habe, die für mich erwerben und ſammlen, ſo iſt es dein Wille, daß ich mich itzt ſchon zum Fleiße und zur Arbeitſam- keit gewöhnen ſoll. Es iſt Pflicht für mich, ſo viel nützliches zu lernen, als ich kann, und mich in allen häuslichen und weiblichen Geſchäfften zu üben und zu vervollkommnen, um einſt im Stande zu ſeyn, ſelbſt für meinen Unterhalt zu ſorgen. Dieß war gewiß Eine deiner Abſichten, warum du mich zur vater- und mutterloſen Waiſe machteſt. Vielleicht würde ich durch Reichthum und Ueberfluß träge und un- thätig geworden ſeyn. Vielleicht würde ich die Fürſorge meiner Aeltern gemisbraucht und mei- nen Geiſt und Körper durch Weichlichkeit und Nichts- thun verzärtelt haben. Vielleicht würde ich bey den beſten Anſtalten und bey allen Hülfsmitteln, mich verſtändig zu machen, unwiſſend und unbrauchbar für die Welt geblieben ſeyn. Vielleicht hätten ſich Stolz und Selbſtſucht meines jungen Herzens bemächtiget und mich von dem Wege der wahren Glückſeligkeit ab- geführt. Vielleicht wäre ich unverträglich, trotzig, unbiegſam, herrſchſüchtig und durch dieſes alles früher oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/64
Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/64>, abgerufen am 27.11.2024.