Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung
§. 226.

Neunte Fortsetzung der Anmerkung. über das dritte
Argument.
Jeder Musiker hat einen gewissen beständigen
Ton im Kopf, nach welchem er die Größe anderer Töne aus-
mißt. Dieser beständige Ton ist entweder der an seinem Orte
herrschende Stimmton, oder wenn derselbe variiret, derjenige
nach dessen Höhe er sein Jnstrument zu brauchen gewohnt ist.
Herrschet an einem Ort ein gewisser Ton, so mag die Tempe-
ratur der Orgeln und anderer Clavierinstrumente seyn wie sie
will, gleichschwebend oder ungleichschwebend, und ungleich-
schwebend von was für einer Art es sey, so wird der Musiker
allezeit den Ton eines musikalischen Stücks erkennen. Va-
riiret der Ton, so wird er nichts destoweniger dem Spieler in
seinen Modulationen folgen, und sich den mit seinem Jnstru-
ment übereinkommenden Ton einbilden; und eben so wird es
derjenige machen, der sich bloß an eine einzige Art der Tem-
peratur gewöhnt, sie mag gleich- oder ungleichschwebend seyn.
Denn natürlicherweise streitet der in dem Kopfe des Musikers
herrschende Ton mit der Art seiner Temperatur, wenn er ein
um eine Secunde oder Terz höher oder tiefer gestimmtes Cla-
vier höret, und da er alsdenn nicht zu entscheiden weiß, so
thut er weiter nichts, als daß er das Tonstück in Gedanken
in den Ton seines Jnstruments versetzet, und in dieser Ein-
bildung dem Spieler durch alle Gänge und Wendungen fol-
get. Das müßte gewiß ein Herenmeister seyn, welcher bey
einer Begegnung von mehrern Clavieren, welche alle, in der
Höhe des C Tons z. E. unterschieden, obgleich nach einerley
Art der Temperatur von C aus gestimmet wären, sagen könnte,
daß der Ton dieses Claviers ein g, und der von einem andern
ein a wäre, ehe er einen gewissen benennten Ton von einem
dieser Jnstrumente gehöret hätte.

§. 227.

Hier sind noch einige Reflerionen über die Kirnbergersche
Temperatur, welche man theils in der Theorie etc. theils in den
Schriften des Hrn. Kirnberger selbst findet, mit meinen An-
merkungen darüber.

Iste
Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung
§. 226.

Neunte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte
Argument.
Jeder Muſiker hat einen gewiſſen beſtaͤndigen
Ton im Kopf, nach welchem er die Groͤße anderer Toͤne aus-
mißt. Dieſer beſtaͤndige Ton iſt entweder der an ſeinem Orte
herrſchende Stimmton, oder wenn derſelbe variiret, derjenige
nach deſſen Hoͤhe er ſein Jnſtrument zu brauchen gewohnt iſt.
Herrſchet an einem Ort ein gewiſſer Ton, ſo mag die Tempe-
ratur der Orgeln und anderer Clavierinſtrumente ſeyn wie ſie
will, gleichſchwebend oder ungleichſchwebend, und ungleich-
ſchwebend von was fuͤr einer Art es ſey, ſo wird der Muſiker
allezeit den Ton eines muſikaliſchen Stuͤcks erkennen. Va-
riiret der Ton, ſo wird er nichts deſtoweniger dem Spieler in
ſeinen Modulationen folgen, und ſich den mit ſeinem Jnſtru-
ment uͤbereinkommenden Ton einbilden; und eben ſo wird es
derjenige machen, der ſich bloß an eine einzige Art der Tem-
peratur gewoͤhnt, ſie mag gleich- oder ungleichſchwebend ſeyn.
Denn natuͤrlicherweiſe ſtreitet der in dem Kopfe des Muſikers
herrſchende Ton mit der Art ſeiner Temperatur, wenn er ein
um eine Secunde oder Terz hoͤher oder tiefer geſtimmtes Cla-
vier hoͤret, und da er alsdenn nicht zu entſcheiden weiß, ſo
thut er weiter nichts, als daß er das Tonſtuͤck in Gedanken
in den Ton ſeines Jnſtruments verſetzet, und in dieſer Ein-
bildung dem Spieler durch alle Gaͤnge und Wendungen fol-
get. Das muͤßte gewiß ein Herenmeiſter ſeyn, welcher bey
einer Begegnung von mehrern Clavieren, welche alle, in der
Hoͤhe des C Tons z. E. unterſchieden, obgleich nach einerley
Art der Temperatur von C aus geſtimmet waͤren, ſagen koͤnnte,
daß der Ton dieſes Claviers ein g, und der von einem andern
ein a waͤre, ehe er einen gewiſſen benennten Ton von einem
dieſer Jnſtrumente gehoͤret haͤtte.

§. 227.

Hier ſind noch einige Reflerionen uͤber die Kirnbergerſche
Temperatur, welche man theils in der Theorie ꝛc. theils in den
Schriften des Hrn. Kirnberger ſelbſt findet, mit meinen An-
merkungen daruͤber.

Iſte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0230" n="210"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Drey und zwanzig&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. Unter&#x017F;uchung</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 226.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Neunte Fort&#x017F;etzung der Anmerkung. u&#x0364;ber das dritte<lb/>
Argument.</hi> Jeder Mu&#x017F;iker hat einen gewi&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
Ton im Kopf, nach welchem er die Gro&#x0364;ße anderer To&#x0364;ne aus-<lb/>
mißt. Die&#x017F;er be&#x017F;ta&#x0364;ndige Ton i&#x017F;t entweder der an &#x017F;einem Orte<lb/>
herr&#x017F;chende Stimmton, oder wenn der&#x017F;elbe variiret, derjenige<lb/>
nach de&#x017F;&#x017F;en Ho&#x0364;he er &#x017F;ein Jn&#x017F;trument zu brauchen gewohnt i&#x017F;t.<lb/>
Herr&#x017F;chet an einem Ort ein gewi&#x017F;&#x017F;er Ton, &#x017F;o mag die Tempe-<lb/>
ratur der Orgeln und anderer Clavierin&#x017F;trumente &#x017F;eyn wie &#x017F;ie<lb/>
will, gleich&#x017F;chwebend oder ungleich&#x017F;chwebend, und ungleich-<lb/>
&#x017F;chwebend von was fu&#x0364;r einer Art es &#x017F;ey, &#x017F;o wird der Mu&#x017F;iker<lb/>
allezeit den Ton eines mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Stu&#x0364;cks erkennen. Va-<lb/>
riiret der Ton, &#x017F;o wird er nichts de&#x017F;toweniger dem Spieler in<lb/>
&#x017F;einen Modulationen folgen, und &#x017F;ich den mit &#x017F;einem Jn&#x017F;tru-<lb/>
ment u&#x0364;bereinkommenden Ton einbilden; und eben &#x017F;o wird es<lb/>
derjenige machen, der &#x017F;ich bloß an eine einzige Art der Tem-<lb/>
peratur gewo&#x0364;hnt, &#x017F;ie mag gleich- oder ungleich&#x017F;chwebend &#x017F;eyn.<lb/>
Denn natu&#x0364;rlicherwei&#x017F;e &#x017F;treitet der in dem Kopfe des Mu&#x017F;ikers<lb/>
herr&#x017F;chende Ton mit der Art &#x017F;einer Temperatur, wenn er ein<lb/>
um eine Secunde oder Terz ho&#x0364;her oder tiefer ge&#x017F;timmtes Cla-<lb/>
vier ho&#x0364;ret, und da er alsdenn nicht zu ent&#x017F;cheiden weiß, &#x017F;o<lb/>
thut er weiter nichts, als daß er das Ton&#x017F;tu&#x0364;ck in Gedanken<lb/>
in den Ton &#x017F;eines Jn&#x017F;truments ver&#x017F;etzet, und in die&#x017F;er Ein-<lb/>
bildung dem Spieler durch alle Ga&#x0364;nge und Wendungen fol-<lb/>
get. Das mu&#x0364;ßte gewiß ein Herenmei&#x017F;ter &#x017F;eyn, welcher bey<lb/>
einer Begegnung von mehrern Clavieren, welche alle, in der<lb/>
Ho&#x0364;he des <hi rendition="#aq">C</hi> Tons z. E. unter&#x017F;chieden, obgleich nach einerley<lb/>
Art der Temperatur von <hi rendition="#aq">C</hi> aus ge&#x017F;timmet wa&#x0364;ren, &#x017F;agen ko&#x0364;nnte,<lb/>
daß der Ton die&#x017F;es Claviers ein <hi rendition="#aq">g,</hi> und der von einem andern<lb/>
ein <hi rendition="#aq">a</hi> wa&#x0364;re, ehe er einen gewi&#x017F;&#x017F;en benennten Ton von einem<lb/>
die&#x017F;er Jn&#x017F;trumente geho&#x0364;ret ha&#x0364;tte.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 227.</head><lb/>
            <p>Hier &#x017F;ind noch einige Reflerionen u&#x0364;ber die Kirnberger&#x017F;che<lb/>
Temperatur, welche man theils in der Theorie &#xA75B;c. theils in den<lb/>
Schriften des Hrn. Kirnberger &#x017F;elb&#x017F;t findet, mit meinen An-<lb/>
merkungen daru&#x0364;ber.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#i">I</hi> </hi> <hi rendition="#fr">&#x017F;te</hi> </fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0230] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung §. 226. Neunte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte Argument. Jeder Muſiker hat einen gewiſſen beſtaͤndigen Ton im Kopf, nach welchem er die Groͤße anderer Toͤne aus- mißt. Dieſer beſtaͤndige Ton iſt entweder der an ſeinem Orte herrſchende Stimmton, oder wenn derſelbe variiret, derjenige nach deſſen Hoͤhe er ſein Jnſtrument zu brauchen gewohnt iſt. Herrſchet an einem Ort ein gewiſſer Ton, ſo mag die Tempe- ratur der Orgeln und anderer Clavierinſtrumente ſeyn wie ſie will, gleichſchwebend oder ungleichſchwebend, und ungleich- ſchwebend von was fuͤr einer Art es ſey, ſo wird der Muſiker allezeit den Ton eines muſikaliſchen Stuͤcks erkennen. Va- riiret der Ton, ſo wird er nichts deſtoweniger dem Spieler in ſeinen Modulationen folgen, und ſich den mit ſeinem Jnſtru- ment uͤbereinkommenden Ton einbilden; und eben ſo wird es derjenige machen, der ſich bloß an eine einzige Art der Tem- peratur gewoͤhnt, ſie mag gleich- oder ungleichſchwebend ſeyn. Denn natuͤrlicherweiſe ſtreitet der in dem Kopfe des Muſikers herrſchende Ton mit der Art ſeiner Temperatur, wenn er ein um eine Secunde oder Terz hoͤher oder tiefer geſtimmtes Cla- vier hoͤret, und da er alsdenn nicht zu entſcheiden weiß, ſo thut er weiter nichts, als daß er das Tonſtuͤck in Gedanken in den Ton ſeines Jnſtruments verſetzet, und in dieſer Ein- bildung dem Spieler durch alle Gaͤnge und Wendungen fol- get. Das muͤßte gewiß ein Herenmeiſter ſeyn, welcher bey einer Begegnung von mehrern Clavieren, welche alle, in der Hoͤhe des C Tons z. E. unterſchieden, obgleich nach einerley Art der Temperatur von C aus geſtimmet waͤren, ſagen koͤnnte, daß der Ton dieſes Claviers ein g, und der von einem andern ein a waͤre, ehe er einen gewiſſen benennten Ton von einem dieſer Jnſtrumente gehoͤret haͤtte. §. 227. Hier ſind noch einige Reflerionen uͤber die Kirnbergerſche Temperatur, welche man theils in der Theorie ꝛc. theils in den Schriften des Hrn. Kirnberger ſelbſt findet, mit meinen An- merkungen daruͤber. Iſte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/230
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/230>, abgerufen am 25.11.2024.