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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Anhang etc. Fünfter Abschnitt. Beweis
baß bey Fig. 66. gegeben wird, so ist der Grundbaß, so wie
er bey Fig. 67. angegeben wird. Der Grundbaß kann doch
zu Fig. 65. und 66. nicht einerley seyn? Das sind widerspre-
chende Dinge. Jn den Schulen der Harmonie muß gezeiget
werden, daß die Fortschreitung von dem Septimenaccorde
g h d f zu dem Septimenaccord d fis a c, in welcher bey quin-
tenweise aufsteigendem Baße die Resolution des erstern über-
gangen wird, nichts tauget; daß aber 1) bey liegendem Baße,
und 2) wenn der Baß schrittweise fortgehet, in gewissen be-
sonders zu erklärenden Fällen, der Uebergang oder die Auslas-
sung der Resolution von einigen Tonmeistern gebrauchet wird.

§. 304.

Wird etwann durch die Jnterpolirung des Grundbasses
die Lücke in den ausgearbeiteten Stimmen zugleich verbessert?
Nichts weniger als dieses; denn man wird doch vermuthlich
nicht glauben, daß eben dasjenige, was der Fortschreitung von
einem Septimenaccord zum andern, bey quintenweise aufstei-
gendem oder quartenweise absteigendem Baße, an ihrer Voll-
kommenheit fehlet, nicht auch in der Umkehrung dieser Sätze
zu ihrer Vollkommenheit fehlet. Der bloße Unterscheid ist,
daß die Jrregularität bey dem springenden Baße empfindlicher
ist, als bey liegendem Baße, und ich weiß nicht, was ich von
einem Lehrer der Harmonie gedenken soll, der (Seite. 43. der
Grundsätze etc. oben) die Welt überreden will, daß durch
"den Uebergang der Resolution nicht der Faden der
"natürlichen Fortschreitung zerrissen werde."
Eben
dasselbe Ding kann ja nicht zugleich natürlich und unnatürlich
seyn. Jst diejenige Fortschreitung, vermittelst welcher eine
Dissonanz ordentlich aufgelöset wird, natürlich oder unnatür-
lich? Jst sie natürlich, so ist es nicht diejenige, wo die Auflö-
sung übersprungen wird; ist sie aber unnatürlich, warum leh-
ret man denn, daß eine Dissonanz ordentlich aufgelöset wer-
den muß? Man verwickle sich doch nicht durch Widersprüche.
Ein anders ist es, daß ein Tonsetzer in gewissen Fällen Natur
und Regel seiner Begeisterung aufopfern will. -- Dem Auctor
der Grundsätze kömmt es bey Gelegenheit der unresolvirenden
Sätze ein, dem alten berühmten Joh. Seb. Bach, der über

alles

Anhang ꝛc. Fuͤnfter Abſchnitt. Beweis
baß bey Fig. 66. gegeben wird, ſo iſt der Grundbaß, ſo wie
er bey Fig. 67. angegeben wird. Der Grundbaß kann doch
zu Fig. 65. und 66. nicht einerley ſeyn? Das ſind widerſpre-
chende Dinge. Jn den Schulen der Harmonie muß gezeiget
werden, daß die Fortſchreitung von dem Septimenaccorde
g h d f zu dem Septimenaccord d fis a c, in welcher bey quin-
tenweiſe aufſteigendem Baße die Reſolution des erſtern uͤber-
gangen wird, nichts tauget; daß aber 1) bey liegendem Baße,
und 2) wenn der Baß ſchrittweiſe fortgehet, in gewiſſen be-
ſonders zu erklaͤrenden Faͤllen, der Uebergang oder die Auslaſ-
ſung der Reſolution von einigen Tonmeiſtern gebrauchet wird.

§. 304.

Wird etwann durch die Jnterpolirung des Grundbaſſes
die Luͤcke in den ausgearbeiteten Stimmen zugleich verbeſſert?
Nichts weniger als dieſes; denn man wird doch vermuthlich
nicht glauben, daß eben dasjenige, was der Fortſchreitung von
einem Septimenaccord zum andern, bey quintenweiſe aufſtei-
gendem oder quartenweiſe abſteigendem Baße, an ihrer Voll-
kommenheit fehlet, nicht auch in der Umkehrung dieſer Saͤtze
zu ihrer Vollkommenheit fehlet. Der bloße Unterſcheid iſt,
daß die Jrregularitaͤt bey dem ſpringenden Baße empfindlicher
iſt, als bey liegendem Baße, und ich weiß nicht, was ich von
einem Lehrer der Harmonie gedenken ſoll, der (Seite. 43. der
Grundſaͤtze ꝛc. oben) die Welt uͤberreden will, daß durch
„den Uebergang der Reſolution nicht der Faden der
„natuͤrlichen Fortſchreitung zerriſſen werde.‟
Eben
daſſelbe Ding kann ja nicht zugleich natuͤrlich und unnatuͤrlich
ſeyn. Jſt diejenige Fortſchreitung, vermittelſt welcher eine
Diſſonanz ordentlich aufgeloͤſet wird, natuͤrlich oder unnatuͤr-
lich? Jſt ſie natuͤrlich, ſo iſt es nicht diejenige, wo die Aufloͤ-
ſung uͤberſprungen wird; iſt ſie aber unnatuͤrlich, warum leh-
ret man denn, daß eine Diſſonanz ordentlich aufgeloͤſet wer-
den muß? Man verwickle ſich doch nicht durch Widerſpruͤche.
Ein anders iſt es, daß ein Tonſetzer in gewiſſen Faͤllen Natur
und Regel ſeiner Begeiſterung aufopfern will. — Dem Auctor
der Grundſaͤtze koͤmmt es bey Gelegenheit der unreſolvirenden
Saͤtze ein, dem alten beruͤhmten Joh. Seb. Bach, der uͤber

alles
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[278/0298] Anhang ꝛc. Fuͤnfter Abſchnitt. Beweis baß bey Fig. 66. gegeben wird, ſo iſt der Grundbaß, ſo wie er bey Fig. 67. angegeben wird. Der Grundbaß kann doch zu Fig. 65. und 66. nicht einerley ſeyn? Das ſind widerſpre- chende Dinge. Jn den Schulen der Harmonie muß gezeiget werden, daß die Fortſchreitung von dem Septimenaccorde g h d f zu dem Septimenaccord d fis a c, in welcher bey quin- tenweiſe aufſteigendem Baße die Reſolution des erſtern uͤber- gangen wird, nichts tauget; daß aber 1) bey liegendem Baße, und 2) wenn der Baß ſchrittweiſe fortgehet, in gewiſſen be- ſonders zu erklaͤrenden Faͤllen, der Uebergang oder die Auslaſ- ſung der Reſolution von einigen Tonmeiſtern gebrauchet wird. §. 304. Wird etwann durch die Jnterpolirung des Grundbaſſes die Luͤcke in den ausgearbeiteten Stimmen zugleich verbeſſert? Nichts weniger als dieſes; denn man wird doch vermuthlich nicht glauben, daß eben dasjenige, was der Fortſchreitung von einem Septimenaccord zum andern, bey quintenweiſe aufſtei- gendem oder quartenweiſe abſteigendem Baße, an ihrer Voll- kommenheit fehlet, nicht auch in der Umkehrung dieſer Saͤtze zu ihrer Vollkommenheit fehlet. Der bloße Unterſcheid iſt, daß die Jrregularitaͤt bey dem ſpringenden Baße empfindlicher iſt, als bey liegendem Baße, und ich weiß nicht, was ich von einem Lehrer der Harmonie gedenken ſoll, der (Seite. 43. der Grundſaͤtze ꝛc. oben) die Welt uͤberreden will, daß durch „den Uebergang der Reſolution nicht der Faden der „natuͤrlichen Fortſchreitung zerriſſen werde.‟ Eben daſſelbe Ding kann ja nicht zugleich natuͤrlich und unnatuͤrlich ſeyn. Jſt diejenige Fortſchreitung, vermittelſt welcher eine Diſſonanz ordentlich aufgeloͤſet wird, natuͤrlich oder unnatuͤr- lich? Jſt ſie natuͤrlich, ſo iſt es nicht diejenige, wo die Aufloͤ- ſung uͤberſprungen wird; iſt ſie aber unnatuͤrlich, warum leh- ret man denn, daß eine Diſſonanz ordentlich aufgeloͤſet wer- den muß? Man verwickle ſich doch nicht durch Widerſpruͤche. Ein anders iſt es, daß ein Tonſetzer in gewiſſen Faͤllen Natur und Regel ſeiner Begeiſterung aufopfern will. — Dem Auctor der Grundſaͤtze koͤmmt es bey Gelegenheit der unreſolvirenden Saͤtze ein, dem alten beruͤhmten Joh. Seb. Bach, der uͤber alles

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/298>, abgerufen am 24.11.2024.