Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechster Abschnitt. Tabelle sämtlicher
Die Classen der Quarten und Quinten durchkreutzen also ein-
ander, und der vorhin dargelegte Grundsatz, und mithin un-
ser ganzes System ist also über den Haufen geworfen. Man
kann den hier vorgetragenen Fall auf jeden andern anwenden,
und, wenn unser System bestehen soll, so folget, daß keine
Classe von Jntervallen sich über ihre Gränzen ausbreiten, das
ist, daß kein Jntervall einer gewissen Classe in eine andere
Classe hinauf oder herunterspringen darf. Auf was für eine
Art sich hernach jede Classe innerhalb ihren Gränzen ausbrei-
ten, d. i. in wie viele Arten von Jntervallen sich solche zer-
gliedern kann, ist eine andere Frage, deren Beantwortung nicht
hieher gehöret. Jch habe es lediglich mit unserm System zu
thun, in welchem nach gegenwärtiger Ausübung die Gränzen
der Terz, Quarte, Quinte und Serte durch die verminderten
und übermäßigen Jntervalle jedes Geschlechts; die Gränzen
der Secunde durch die kleinen und übermäßigen, der Septime
durch die verminderten und grossen; und der Octaven durch
die verminderten und vollkommnen Jntervalle ihres Geschlechts
bestimmet werden. Will man von der gegenwärtigen Aus-
übung, in so fern man sich selbige allgemein denket, die über-
mäßige Terz
ausschliessen, so kann es seyn, daß man nicht
ganz Unrecht hat. Unterdessen ist dieses Jntervall doch schon
lange bekannt gewesen, und man irret, wenn man es für ein
Product der neuesten Zeiten hält. Wie es am bequemsten in
Ausübung gebracht werden könne, siehet man bey Fig. 9.
So bizarre die Wirkung davon ist, so ist bekannt, daß mit
den gewöhnlichsten claßischen Jntervallen harmonische Folgen
gebildet werden können, und auch hin und wieder gebildet
worden sind, welche zehnmal bizarrer klingen.

§. 51.

So viel ist gewiß, daß die übermäßige Terz ihr Ver-
hältniß mehr der Kunst als Natur zu danken hat, wie aus §.
43. bekannt ist. Es trift aber dieser Umstand zugleich die
verminderte Terz. Wenn unterdessen erwiesen werden kann,
daß der harmonischen Tonleiter durch die Zahl 6 das Ziel ge-
setzet wird, und folglich auch die Ableitung der Jntervalle aus
dieser Tonleiter nothwendig ihre Gränzen haben muß, so sollte

man

Sechſter Abſchnitt. Tabelle ſaͤmtlicher
Die Claſſen der Quarten und Quinten durchkreutzen alſo ein-
ander, und der vorhin dargelegte Grundſatz, und mithin un-
ſer ganzes Syſtem iſt alſo uͤber den Haufen geworfen. Man
kann den hier vorgetragenen Fall auf jeden andern anwenden,
und, wenn unſer Syſtem beſtehen ſoll, ſo folget, daß keine
Claſſe von Jntervallen ſich uͤber ihre Graͤnzen ausbreiten, das
iſt, daß kein Jntervall einer gewiſſen Claſſe in eine andere
Claſſe hinauf oder herunterſpringen darf. Auf was fuͤr eine
Art ſich hernach jede Claſſe innerhalb ihren Graͤnzen ausbrei-
ten, d. i. in wie viele Arten von Jntervallen ſich ſolche zer-
gliedern kann, iſt eine andere Frage, deren Beantwortung nicht
hieher gehoͤret. Jch habe es lediglich mit unſerm Syſtem zu
thun, in welchem nach gegenwaͤrtiger Ausuͤbung die Graͤnzen
der Terz, Quarte, Quinte und Serte durch die verminderten
und uͤbermaͤßigen Jntervalle jedes Geſchlechts; die Graͤnzen
der Secunde durch die kleinen und uͤbermaͤßigen, der Septime
durch die verminderten und groſſen; und der Octaven durch
die verminderten und vollkommnen Jntervalle ihres Geſchlechts
beſtimmet werden. Will man von der gegenwaͤrtigen Aus-
uͤbung, in ſo fern man ſich ſelbige allgemein denket, die uͤber-
maͤßige Terz
ausſchlieſſen, ſo kann es ſeyn, daß man nicht
ganz Unrecht hat. Unterdeſſen iſt dieſes Jntervall doch ſchon
lange bekannt geweſen, und man irret, wenn man es fuͤr ein
Product der neueſten Zeiten haͤlt. Wie es am bequemſten in
Ausuͤbung gebracht werden koͤnne, ſiehet man bey Fig. 9.
So bizarre die Wirkung davon iſt, ſo iſt bekannt, daß mit
den gewoͤhnlichſten claßiſchen Jntervallen harmoniſche Folgen
gebildet werden koͤnnen, und auch hin und wieder gebildet
worden ſind, welche zehnmal bizarrer klingen.

§. 51.

So viel iſt gewiß, daß die uͤbermaͤßige Terz ihr Ver-
haͤltniß mehr der Kunſt als Natur zu danken hat, wie aus §.
43. bekannt iſt. Es trift aber dieſer Umſtand zugleich die
verminderte Terz. Wenn unterdeſſen erwieſen werden kann,
daß der harmoniſchen Tonleiter durch die Zahl 6 das Ziel ge-
ſetzet wird, und folglich auch die Ableitung der Jntervalle aus
dieſer Tonleiter nothwendig ihre Graͤnzen haben muß, ſo ſollte

man
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0066" n="46"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sech&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt. Tabelle &#x017F;a&#x0364;mtlicher</hi></fw><lb/>
Die Cla&#x017F;&#x017F;en der Quarten und Quinten durchkreutzen al&#x017F;o ein-<lb/>
ander, und der vorhin dargelegte Grund&#x017F;atz, und mithin un-<lb/>
&#x017F;er ganzes Sy&#x017F;tem i&#x017F;t al&#x017F;o u&#x0364;ber den Haufen geworfen. Man<lb/>
kann den hier vorgetragenen Fall auf jeden andern anwenden,<lb/>
und, wenn un&#x017F;er Sy&#x017F;tem be&#x017F;tehen &#x017F;oll, &#x017F;o folget, daß keine<lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;e von Jntervallen &#x017F;ich u&#x0364;ber ihre Gra&#x0364;nzen ausbreiten, das<lb/>
i&#x017F;t, daß kein Jntervall einer gewi&#x017F;&#x017F;en Cla&#x017F;&#x017F;e in eine andere<lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;e hinauf oder herunter&#x017F;pringen darf. Auf was fu&#x0364;r eine<lb/>
Art &#x017F;ich hernach jede Cla&#x017F;&#x017F;e innerhalb ihren Gra&#x0364;nzen ausbrei-<lb/>
ten, d. i. in wie viele Arten von Jntervallen &#x017F;ich &#x017F;olche zer-<lb/>
gliedern kann, i&#x017F;t eine andere Frage, deren Beantwortung nicht<lb/>
hieher geho&#x0364;ret. Jch habe es lediglich mit un&#x017F;erm Sy&#x017F;tem zu<lb/>
thun, in welchem nach gegenwa&#x0364;rtiger Ausu&#x0364;bung die Gra&#x0364;nzen<lb/>
der Terz, Quarte, Quinte und Serte durch die verminderten<lb/>
und u&#x0364;berma&#x0364;ßigen Jntervalle jedes Ge&#x017F;chlechts; die Gra&#x0364;nzen<lb/>
der Secunde durch die kleinen und u&#x0364;berma&#x0364;ßigen, der Septime<lb/>
durch die verminderten und gro&#x017F;&#x017F;en; und der Octaven durch<lb/>
die verminderten und vollkommnen Jntervalle ihres Ge&#x017F;chlechts<lb/>
be&#x017F;timmet werden. Will man von der gegenwa&#x0364;rtigen Aus-<lb/>
u&#x0364;bung, in &#x017F;o fern man &#x017F;ich &#x017F;elbige allgemein denket, die <hi rendition="#fr">u&#x0364;ber-<lb/>
ma&#x0364;ßige Terz</hi> aus&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o kann es &#x017F;eyn, daß man nicht<lb/>
ganz Unrecht hat. Unterde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t die&#x017F;es Jntervall doch &#x017F;chon<lb/>
lange bekannt gewe&#x017F;en, und man irret, wenn man es fu&#x0364;r ein<lb/>
Product der neue&#x017F;ten Zeiten ha&#x0364;lt. Wie es am bequem&#x017F;ten in<lb/>
Ausu&#x0364;bung gebracht werden ko&#x0364;nne, &#x017F;iehet man bey Fig. 9.<lb/>
So bizarre die Wirkung davon i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t bekannt, daß mit<lb/>
den gewo&#x0364;hnlich&#x017F;ten claßi&#x017F;chen Jntervallen harmoni&#x017F;che Folgen<lb/>
gebildet werden ko&#x0364;nnen, und auch hin und wieder gebildet<lb/>
worden &#x017F;ind, welche zehnmal bizarrer klingen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 51.</head><lb/>
            <p>So viel i&#x017F;t gewiß, daß die <hi rendition="#fr">u&#x0364;berma&#x0364;ßige Terz</hi> ihr Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltniß mehr der Kun&#x017F;t als Natur zu danken hat, wie aus §.<lb/>
43. bekannt i&#x017F;t. Es trift aber die&#x017F;er Um&#x017F;tand zugleich die<lb/><hi rendition="#fr">verminderte Terz.</hi> Wenn unterde&#x017F;&#x017F;en erwie&#x017F;en werden kann,<lb/>
daß der harmoni&#x017F;chen Tonleiter durch die Zahl 6 das Ziel ge-<lb/>
&#x017F;etzet wird, und folglich auch die Ableitung der Jntervalle aus<lb/>
die&#x017F;er Tonleiter nothwendig ihre Gra&#x0364;nzen haben muß, &#x017F;o &#x017F;ollte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">man</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0066] Sechſter Abſchnitt. Tabelle ſaͤmtlicher Die Claſſen der Quarten und Quinten durchkreutzen alſo ein- ander, und der vorhin dargelegte Grundſatz, und mithin un- ſer ganzes Syſtem iſt alſo uͤber den Haufen geworfen. Man kann den hier vorgetragenen Fall auf jeden andern anwenden, und, wenn unſer Syſtem beſtehen ſoll, ſo folget, daß keine Claſſe von Jntervallen ſich uͤber ihre Graͤnzen ausbreiten, das iſt, daß kein Jntervall einer gewiſſen Claſſe in eine andere Claſſe hinauf oder herunterſpringen darf. Auf was fuͤr eine Art ſich hernach jede Claſſe innerhalb ihren Graͤnzen ausbrei- ten, d. i. in wie viele Arten von Jntervallen ſich ſolche zer- gliedern kann, iſt eine andere Frage, deren Beantwortung nicht hieher gehoͤret. Jch habe es lediglich mit unſerm Syſtem zu thun, in welchem nach gegenwaͤrtiger Ausuͤbung die Graͤnzen der Terz, Quarte, Quinte und Serte durch die verminderten und uͤbermaͤßigen Jntervalle jedes Geſchlechts; die Graͤnzen der Secunde durch die kleinen und uͤbermaͤßigen, der Septime durch die verminderten und groſſen; und der Octaven durch die verminderten und vollkommnen Jntervalle ihres Geſchlechts beſtimmet werden. Will man von der gegenwaͤrtigen Aus- uͤbung, in ſo fern man ſich ſelbige allgemein denket, die uͤber- maͤßige Terz ausſchlieſſen, ſo kann es ſeyn, daß man nicht ganz Unrecht hat. Unterdeſſen iſt dieſes Jntervall doch ſchon lange bekannt geweſen, und man irret, wenn man es fuͤr ein Product der neueſten Zeiten haͤlt. Wie es am bequemſten in Ausuͤbung gebracht werden koͤnne, ſiehet man bey Fig. 9. So bizarre die Wirkung davon iſt, ſo iſt bekannt, daß mit den gewoͤhnlichſten claßiſchen Jntervallen harmoniſche Folgen gebildet werden koͤnnen, und auch hin und wieder gebildet worden ſind, welche zehnmal bizarrer klingen. §. 51. So viel iſt gewiß, daß die uͤbermaͤßige Terz ihr Ver- haͤltniß mehr der Kunſt als Natur zu danken hat, wie aus §. 43. bekannt iſt. Es trift aber dieſer Umſtand zugleich die verminderte Terz. Wenn unterdeſſen erwieſen werden kann, daß der harmoniſchen Tonleiter durch die Zahl 6 das Ziel ge- ſetzet wird, und folglich auch die Ableitung der Jntervalle aus dieſer Tonleiter nothwendig ihre Graͤnzen haben muß, ſo ſollte man

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/66
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/66>, abgerufen am 23.11.2024.