tröge festsetzten, deren Inbegriff dann einen Codex eines allgemeinen positiven europäischen Völkerrechts ausmachen würde. Aber weder die ehemahligen Concilien, noch das zernichtete Project einer allgemeinen europäischen Völker- republik haben je auch nur einen, von den mehresten euro- päischen Völkern eingegangenen, Vertrag hervorgebracht; in dem Sinne existirt also kein allgemeines europäisches Völkerrecht, und wird vermuthlich nie eines entstehn.
Auf der andern Seite ist unläugbar, daß das, was von zweyen oder mehreren Völkern durch Verträge oder Gewohnheit eingeführt worden, an sich a) die übrigen nicht binden könne; daß auch von keinem Puncte behauptet werden möge, daß er von jeder europäischen Macht in ihren ein- zelnen Verhältnissen gegen jede der übrigen so gleichför- mig festgesetzt sey, daß diese einzelnen zusammen genom- menen Verträge völlig die Stelle eines allgemeinen Ver- trags vertreten b). Indeß 1) wenn man die einzelnen Verträge der europäischen Mächte mit einander vergleicht, so lassen sich Puncte angeben, die fast von allen den Mächten, welche Verträge darüber errichtet haben, im wesentlichen gleichförmig bestimmt sind. 2) Eben dieses gilt von vielen in einzelnen Verhältnissen bestehenden Ce- remonial- und andern Gebräuchen. 3) Gewohnheitsrechte, die einmahl von den mehresten der größeren europäischen Mächte eingeführt worden sind, und nicht etwa ihren be- sonderen Grund in der Verfassung derselben haben, wer- den nicht nur leicht von den übrigen, insonderheit den mittleren und kleinen Staaten, so weit sie auf sie passen, angenommen und nachgeahmt, sondern man sieht auch 4) aus den eigenen Aeußerungen und dem Betragen der europäischen Mächte, daß sie dem in Europa hergebrachten Gewohnheitsrechte selbst dann einige Kraft beylegen, wenn man auch nicht zeigen könnte, daß in jedem individuellen Verhältniß gegen sie die Gewohnheit schon bisher bestanden habe. Und wenn sich gleich nicht eben dieses von den Ver-
trags-
Einleitung.
troͤge feſtſetzten, deren Inbegriff dann einen Codex eines allgemeinen poſitiven europaͤiſchen Voͤlkerrechts ausmachen wuͤrde. Aber weder die ehemahligen Concilien, noch das zernichtete Project einer allgemeinen europaͤiſchen Voͤlker- republik haben je auch nur einen, von den mehreſten euro- paͤiſchen Voͤlkern eingegangenen, Vertrag hervorgebracht; in dem Sinne exiſtirt alſo kein allgemeines europaͤiſches Voͤlkerrecht, und wird vermuthlich nie eines entſtehn.
Auf der andern Seite iſt unlaͤugbar, daß das, was von zweyen oder mehreren Voͤlkern durch Vertraͤge oder Gewohnheit eingefuͤhrt worden, an ſich a) die uͤbrigen nicht binden koͤnne; daß auch von keinem Puncte behauptet werden moͤge, daß er von jeder europaͤiſchen Macht in ihren ein- zelnen Verhaͤltniſſen gegen jede der uͤbrigen ſo gleichfoͤr- mig feſtgeſetzt ſey, daß dieſe einzelnen zuſammen genom- menen Vertraͤge voͤllig die Stelle eines allgemeinen Ver- trags vertreten b). Indeß 1) wenn man die einzelnen Vertraͤge der europaͤiſchen Maͤchte mit einander vergleicht, ſo laſſen ſich Puncte angeben, die faſt von allen den Maͤchten, welche Vertraͤge daruͤber errichtet haben, im weſentlichen gleichfoͤrmig beſtimmt ſind. 2) Eben dieſes gilt von vielen in einzelnen Verhaͤltniſſen beſtehenden Ce- remonial- und andern Gebraͤuchen. 3) Gewohnheitsrechte, die einmahl von den mehreſten der groͤßeren europaͤiſchen Maͤchte eingefuͤhrt worden ſind, und nicht etwa ihren be- ſonderen Grund in der Verfaſſung derſelben haben, wer- den nicht nur leicht von den uͤbrigen, inſonderheit den mittleren und kleinen Staaten, ſo weit ſie auf ſie paſſen, angenommen und nachgeahmt, ſondern man ſieht auch 4) aus den eigenen Aeußerungen und dem Betragen der europaͤiſchen Maͤchte, daß ſie dem in Europa hergebrachten Gewohnheitsrechte ſelbſt dann einige Kraft beylegen, wenn man auch nicht zeigen koͤnnte, daß in jedem individuellen Verhaͤltniß gegen ſie die Gewohnheit ſchon bisher beſtanden habe. Und wenn ſich gleich nicht eben dieſes von den Ver-
trags-
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[4/0032]
Einleitung.
troͤge feſtſetzten, deren Inbegriff dann einen Codex eines
allgemeinen poſitiven europaͤiſchen Voͤlkerrechts ausmachen
wuͤrde. Aber weder die ehemahligen Concilien, noch das
zernichtete Project einer allgemeinen europaͤiſchen Voͤlker-
republik haben je auch nur einen, von den mehreſten euro-
paͤiſchen Voͤlkern eingegangenen, Vertrag hervorgebracht;
in dem Sinne exiſtirt alſo kein allgemeines europaͤiſches
Voͤlkerrecht, und wird vermuthlich nie eines entſtehn.
Auf der andern Seite iſt unlaͤugbar, daß das, was
von zweyen oder mehreren Voͤlkern durch Vertraͤge oder
Gewohnheit eingefuͤhrt worden, an ſich a) die uͤbrigen nicht
binden koͤnne; daß auch von keinem Puncte behauptet werden
moͤge, daß er von jeder europaͤiſchen Macht in ihren ein-
zelnen Verhaͤltniſſen gegen jede der uͤbrigen ſo gleichfoͤr-
mig feſtgeſetzt ſey, daß dieſe einzelnen zuſammen genom-
menen Vertraͤge voͤllig die Stelle eines allgemeinen Ver-
trags vertreten b). Indeß 1) wenn man die einzelnen
Vertraͤge der europaͤiſchen Maͤchte mit einander vergleicht,
ſo laſſen ſich Puncte angeben, die faſt von allen den
Maͤchten, welche Vertraͤge daruͤber errichtet haben, im
weſentlichen gleichfoͤrmig beſtimmt ſind. 2) Eben dieſes
gilt von vielen in einzelnen Verhaͤltniſſen beſtehenden Ce-
remonial- und andern Gebraͤuchen. 3) Gewohnheitsrechte,
die einmahl von den mehreſten der groͤßeren europaͤiſchen
Maͤchte eingefuͤhrt worden ſind, und nicht etwa ihren be-
ſonderen Grund in der Verfaſſung derſelben haben, wer-
den nicht nur leicht von den uͤbrigen, inſonderheit den
mittleren und kleinen Staaten, ſo weit ſie auf ſie paſſen,
angenommen und nachgeahmt, ſondern man ſieht auch
4) aus den eigenen Aeußerungen und dem Betragen der
europaͤiſchen Maͤchte, daß ſie dem in Europa hergebrachten
Gewohnheitsrechte ſelbſt dann einige Kraft beylegen, wenn
man auch nicht zeigen koͤnnte, daß in jedem individuellen
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habe. Und wenn ſich gleich nicht eben dieſes von den Ver-
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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/32>, abgerufen am 16.07.2024.
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