zwingt"211). Obgleich Ure's Schrift vor 30 Jahren erschien, also zur Zeit eines relativ noch schwach entwickelten Fabriksystems, bleibt sie der klassische Ausdruck des Fabrikgeists, nicht nur wegen ihres offenherzigen Cynismus, sondern auch wegen der Naivetät, womit er die gedankenlosen Widersprüche des Kapitalhirns ausplaudert. Nach- dem er z. B. die "Doktrin" entwickelt, dass das Kapital mit Hilfe der von ihm in Sold genommenen Wissenschaft "stets die rebellische Hand der In- dustrie zum Gehorsam zwingt", entrüstet er sich darüber, "dass man von gewisser Seite die mechanisch-physische Wissenschaft anklagt, sich dem Despotismus reicher Kapitalisten zu leihen und zum Unterdrückungsmittel der armen Klassen herzugeben." Nachdem er weit und breit gepredigt, wie vortheilhaft rasche Entwicklung der Maschinerie den Arbeitern, warnt er sie, dass sie durch ihre Widersetzlichkeit, Strikes u. s. w., die Ent- wicklung der Maschinerie beschleunigen. "Derartige Re- volten", sagt er, "zeigen die menschliche Verblendung in ihrem verächt- lichsten Charakter, dem Charakter eines Menschen, der sich zu sei- nem eignen Henker macht." Wenige Seiten vorher heisst es um- gekehrt: "Ohne die Kollisionen und heftigen Unterbrechungen, verursacht durch die irrigen Ansichten der Arbeiter, hätte sich das Fabrik- system noch viel rascher entwickelt und viel nützlicher für alle interessirten Parteien." Dann ruft er wieder aus: "Zum Glück für die Bevölkerung der Fabrikstädte Grossbritaniens finden die Verbesserungen in der Mechanik nur allmälig statt." "Mit Unrecht", sagt er, "klagt man die Maschinen an, dass sie den Arbeitslohn der Erwachsnen vermindern, indem sie einen Theil derselben deplaciren, wodurch ihre Anzahl das Be- dürfniss nach Arbeit übersteigt. Aber es findet vermehrte Anwendung der Kinderarbeit statt und der Gewinn der Erwachsnen ist dadurch um so beträchtlicher." Derselbe Trostspender vertheidigt andrerseits die Niedrig- keit der Kinderlöhne damit, dass "sie die Aeltern abhalten ihre Kinder zu früh in die Fabriken zu schicken." Sein ganzes Buch ist eine Apo- logie des unbeschränkten Arbeitstags und es erinnert seine liberale Seele an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters, wenn die Gesetzgebung verbietet Kinder von 13 Jahren mehr als 12 Stunden per Tag abzurackern. Diess hält ihn nicht ab die Fabrikarbeiter zu einem Dankgebet an die Vorsehung
211)Ure l. c. t. II, p. 141, 142, 140
zwingt“211). Obgleich Ure’s Schrift vor 30 Jahren erschien, also zur Zeit eines relativ noch schwach entwickelten Fabriksystems, bleibt sie der klassische Ausdruck des Fabrikgeists, nicht nur wegen ihres offenherzigen Cynismus, sondern auch wegen der Naivetät, womit er die gedankenlosen Widersprüche des Kapitalhirns ausplaudert. Nach- dem er z. B. die „Doktrin“ entwickelt, dass das Kapital mit Hilfe der von ihm in Sold genommenen Wissenschaft „stets die rebellische Hand der In- dustrie zum Gehorsam zwingt“, entrüstet er sich darüber, „dass man von gewisser Seite die mechanisch-physische Wissenschaft anklagt, sich dem Despotismus reicher Kapitalisten zu leihen und zum Unterdrückungsmittel der armen Klassen herzugeben.“ Nachdem er weit und breit gepredigt, wie vortheilhaft rasche Entwicklung der Maschinerie den Arbeitern, warnt er sie, dass sie durch ihre Widersetzlichkeit, Strikes u. s. w., die Ent- wicklung der Maschinerie beschleunigen. „Derartige Re- volten“, sagt er, „zeigen die menschliche Verblendung in ihrem verächt- lichsten Charakter, dem Charakter eines Menschen, der sich zu sei- nem eignen Henker macht.“ Wenige Seiten vorher heisst es um- gekehrt: „Ohne die Kollisionen und heftigen Unterbrechungen, verursacht durch die irrigen Ansichten der Arbeiter, hätte sich das Fabrik- system noch viel rascher entwickelt und viel nützlicher für alle interessirten Parteien.“ Dann ruft er wieder aus: „Zum Glück für die Bevölkerung der Fabrikstädte Grossbritaniens finden die Verbesserungen in der Mechanik nur allmälig statt.“ „Mit Unrecht“, sagt er, „klagt man die Maschinen an, dass sie den Arbeitslohn der Erwachsnen vermindern, indem sie einen Theil derselben deplaciren, wodurch ihre Anzahl das Be- dürfniss nach Arbeit übersteigt. Aber es findet vermehrte Anwendung der Kinderarbeit statt und der Gewinn der Erwachsnen ist dadurch um so beträchtlicher.“ Derselbe Trostspender vertheidigt andrerseits die Niedrig- keit der Kinderlöhne damit, dass „sie die Aeltern abhalten ihre Kinder zu früh in die Fabriken zu schicken.“ Sein ganzes Buch ist eine Apo- logie des unbeschränkten Arbeitstags und es erinnert seine liberale Seele an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters, wenn die Gesetzgebung verbietet Kinder von 13 Jahren mehr als 12 Stunden per Tag abzurackern. Diess hält ihn nicht ab die Fabrikarbeiter zu einem Dankgebet an die Vorsehung
211)Ure l. c. t. II, p. 141, 142, 140
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klassische Ausdruck des Fabrikgeists, nicht nur wegen ihres
offenherzigen Cynismus, sondern auch wegen der Naivetät, womit
er die gedankenlosen Widersprüche des Kapitalhirns ausplaudert. Nach-
dem er z. B. die „Doktrin“ entwickelt, dass das Kapital mit Hilfe der von
ihm in Sold genommenen Wissenschaft „stets die rebellische Hand der In-
dustrie zum Gehorsam zwingt“, entrüstet er sich darüber, „dass man von
gewisser Seite die mechanisch-physische Wissenschaft anklagt, sich dem
Despotismus reicher Kapitalisten zu leihen und zum Unterdrückungsmittel
der armen Klassen herzugeben.“ Nachdem er weit und breit gepredigt,
wie vortheilhaft rasche Entwicklung der Maschinerie den Arbeitern, warnt
er sie, dass sie durch ihre Widersetzlichkeit, Strikes u. s. w., die Ent-
wicklung der Maschinerie beschleunigen. „Derartige Re-
volten“, sagt er, „zeigen die menschliche Verblendung in ihrem verächt-
lichsten Charakter, dem Charakter eines Menschen, der sich zu sei-
nem eignen Henker macht.“ Wenige Seiten vorher heisst es um-
gekehrt: „Ohne die Kollisionen und heftigen Unterbrechungen, verursacht
durch die irrigen Ansichten der Arbeiter, hätte sich das Fabrik-
system noch viel rascher entwickelt und viel nützlicher für alle
interessirten Parteien.“ Dann ruft er wieder aus: „Zum Glück für die
Bevölkerung der Fabrikstädte Grossbritaniens finden die Verbesserungen
in der Mechanik nur allmälig statt.“ „Mit Unrecht“, sagt er, „klagt man
die Maschinen an, dass sie den Arbeitslohn der Erwachsnen vermindern,
indem sie einen Theil derselben deplaciren, wodurch ihre Anzahl das Be-
dürfniss nach Arbeit übersteigt. Aber es findet vermehrte Anwendung
der Kinderarbeit statt und der Gewinn der Erwachsnen ist dadurch um so
beträchtlicher.“ Derselbe Trostspender vertheidigt andrerseits die Niedrig-
keit der Kinderlöhne damit, dass „sie die Aeltern abhalten ihre Kinder
zu früh in die Fabriken zu schicken.“ Sein ganzes Buch ist eine Apo-
logie des unbeschränkten Arbeitstags und es erinnert seine liberale Seele
an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters, wenn die Gesetzgebung verbietet
Kinder von 13 Jahren mehr als 12 Stunden per Tag abzurackern. Diess
hält ihn nicht ab die Fabrikarbeiter zu einem Dankgebet an die Vorsehung
211) Ure l. c. t. II, p. 141, 142, 140
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Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/447>, abgerufen am 22.11.2024.
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