"Sie fällt, und das Papier brennt an. Ich sehe schon die Flammen zucken!"
"Ich sehe nichts!"
"Maschallah! Ich sehe sie fallen, und dennoch bleibt sie oben! Wackele nicht so, Selim Agha, sonst wirst du umstürzen!"
"Ich wackele nicht, Effendi!"
"Ich sehe es sehr genau!"
"Du selbst wackelst, Herr!"
"Ich? Agha, mir wird es sehr bange um dein System. Deine Nerven schieben dich hin und her, und die Ver- dauung ist dir in die Beine gesunken. Du schüttelst die Arme und schlingerst mit dem Kopfe, als ob du schwim- men wolltest. O, Selim Agha, diese Medizin war zu herrlich und zu stark für dich. Sie wird dich zu Boden werfen!"
"Herr, du irrst! Was du mir sagst, das ist mit dir der Fall. Ich sehe deine Füße tanzen und deine Arme hüpfen. Dein Kopf dreht sich rund herum. Effendi, du bist sehr krank. Allah möge dir Hilfe senden, daß das System deines Blutes nicht ganz und gar zu Grunde gehe!"
Das war dem Mutesselim denn doch zu viel. Er machte eine Faust und drohte:
"Selim Agha, nimm dich in acht! Wer da sagt, daß mein System nicht in Ordnung sei, den lasse ich peitschen oder einstecken! Wallah! Habe ich denn den Schlüssel zu mir gesteckt?"
Er fuhr sich nach dem Gürtel und fand das Gesuchte.
"Agha, mache dich auf und begleite mich! Ich werde jetzt das Gefängnis untersuchen. Emir, deine Medizin ist wirklich wie die Milch des Paradieses; aber sie hat deinen
II. 20
„Emir, deine Lampe fällt herab!“
„Ich glaube, ſie hängt feſt!“
„Sie fällt, und das Papier brennt an. Ich ſehe ſchon die Flammen zucken!“
„Ich ſehe nichts!“
„Maſchallah! Ich ſehe ſie fallen, und dennoch bleibt ſie oben! Wackele nicht ſo, Selim Agha, ſonſt wirſt du umſtürzen!“
„Ich wackele nicht, Effendi!“
„Ich ſehe es ſehr genau!“
„Du ſelbſt wackelſt, Herr!“
„Ich? Agha, mir wird es ſehr bange um dein Syſtem. Deine Nerven ſchieben dich hin und her, und die Ver- dauung iſt dir in die Beine geſunken. Du ſchüttelſt die Arme und ſchlingerſt mit dem Kopfe, als ob du ſchwim- men wollteſt. O, Selim Agha, dieſe Medizin war zu herrlich und zu ſtark für dich. Sie wird dich zu Boden werfen!“
„Herr, du irrſt! Was du mir ſagſt, das iſt mit dir der Fall. Ich ſehe deine Füße tanzen und deine Arme hüpfen. Dein Kopf dreht ſich rund herum. Effendi, du biſt ſehr krank. Allah möge dir Hilfe ſenden, daß das Syſtem deines Blutes nicht ganz und gar zu Grunde gehe!“
Das war dem Muteſſelim denn doch zu viel. Er machte eine Fauſt und drohte:
„Selim Agha, nimm dich in acht! Wer da ſagt, daß mein Syſtem nicht in Ordnung ſei, den laſſe ich peitſchen oder einſtecken! Wallah! Habe ich denn den Schlüſſel zu mir geſteckt?“
Er fuhr ſich nach dem Gürtel und fand das Geſuchte.
„Agha, mache dich auf und begleite mich! Ich werde jetzt das Gefängnis unterſuchen. Emir, deine Medizin iſt wirklich wie die Milch des Paradieſes; aber ſie hat deinen
II. 20
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0319"n="305"/><p>„Emir, deine Lampe fällt herab!“</p><lb/><p>„Ich glaube, ſie hängt feſt!“</p><lb/><p>„Sie fällt, und das Papier brennt an. Ich ſehe ſchon<lb/>
die Flammen zucken!“</p><lb/><p>„Ich ſehe nichts!“</p><lb/><p>„Maſchallah! Ich ſehe ſie fallen, und dennoch bleibt<lb/>ſie oben! Wackele nicht ſo, Selim Agha, ſonſt wirſt du<lb/>
umſtürzen!“</p><lb/><p>„Ich wackele nicht, Effendi!“</p><lb/><p>„Ich ſehe es ſehr genau!“</p><lb/><p>„Du ſelbſt wackelſt, Herr!“</p><lb/><p>„Ich? Agha, mir wird es ſehr bange um dein Syſtem.<lb/>
Deine Nerven ſchieben dich hin und her, und die Ver-<lb/>
dauung iſt dir in die Beine geſunken. Du ſchüttelſt die<lb/>
Arme und ſchlingerſt mit dem Kopfe, als ob du ſchwim-<lb/>
men wollteſt. O, Selim Agha, dieſe Medizin war zu<lb/>
herrlich und zu ſtark für dich. Sie wird dich zu Boden<lb/>
werfen!“</p><lb/><p>„Herr, du irrſt! Was du mir ſagſt, das iſt mit dir<lb/>
der Fall. Ich ſehe deine Füße tanzen und deine Arme<lb/>
hüpfen. Dein Kopf dreht ſich rund herum. Effendi, du biſt<lb/>ſehr krank. Allah möge dir Hilfe ſenden, daß das Syſtem<lb/>
deines Blutes nicht ganz und gar zu Grunde gehe!“</p><lb/><p>Das war dem Muteſſelim denn doch zu viel. Er<lb/>
machte eine Fauſt und drohte:</p><lb/><p>„Selim Agha, nimm dich in acht! Wer da ſagt, daß<lb/>
mein Syſtem nicht in Ordnung ſei, den laſſe ich peitſchen<lb/>
oder einſtecken! Wallah! Habe ich denn den Schlüſſel zu<lb/>
mir geſteckt?“</p><lb/><p>Er fuhr ſich nach dem Gürtel und fand das Geſuchte.</p><lb/><p>„Agha, mache dich auf und begleite mich! Ich werde<lb/>
jetzt das Gefängnis unterſuchen. Emir, deine Medizin iſt<lb/>
wirklich wie die Milch des Paradieſes; aber ſie hat deinen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">II. 20</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[305/0319]
„Emir, deine Lampe fällt herab!“
„Ich glaube, ſie hängt feſt!“
„Sie fällt, und das Papier brennt an. Ich ſehe ſchon
die Flammen zucken!“
„Ich ſehe nichts!“
„Maſchallah! Ich ſehe ſie fallen, und dennoch bleibt
ſie oben! Wackele nicht ſo, Selim Agha, ſonſt wirſt du
umſtürzen!“
„Ich wackele nicht, Effendi!“
„Ich ſehe es ſehr genau!“
„Du ſelbſt wackelſt, Herr!“
„Ich? Agha, mir wird es ſehr bange um dein Syſtem.
Deine Nerven ſchieben dich hin und her, und die Ver-
dauung iſt dir in die Beine geſunken. Du ſchüttelſt die
Arme und ſchlingerſt mit dem Kopfe, als ob du ſchwim-
men wollteſt. O, Selim Agha, dieſe Medizin war zu
herrlich und zu ſtark für dich. Sie wird dich zu Boden
werfen!“
„Herr, du irrſt! Was du mir ſagſt, das iſt mit dir
der Fall. Ich ſehe deine Füße tanzen und deine Arme
hüpfen. Dein Kopf dreht ſich rund herum. Effendi, du biſt
ſehr krank. Allah möge dir Hilfe ſenden, daß das Syſtem
deines Blutes nicht ganz und gar zu Grunde gehe!“
Das war dem Muteſſelim denn doch zu viel. Er
machte eine Fauſt und drohte:
„Selim Agha, nimm dich in acht! Wer da ſagt, daß
mein Syſtem nicht in Ordnung ſei, den laſſe ich peitſchen
oder einſtecken! Wallah! Habe ich denn den Schlüſſel zu
mir geſteckt?“
Er fuhr ſich nach dem Gürtel und fand das Geſuchte.
„Agha, mache dich auf und begleite mich! Ich werde
jetzt das Gefängnis unterſuchen. Emir, deine Medizin iſt
wirklich wie die Milch des Paradieſes; aber ſie hat deinen
II. 20
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/319>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.