Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Es wurde vorhin einem Bewohner des Dorfes seine
Leiter gestohlen, und als er sie suchte, fand er sie an
eurem Hause lehnen. Es standen einige fremde Leute da-
bei, die aber schnell entflohen. Da dachten wir, daß es
Diebe seien, die in euer Haus eindringen wollten, und
daher bin ich gekommen, um es euch zu sagen."

"Ich danke dir! Aber du kannst ruhig sein und
wieder gehen, und auch wir werden uns wieder nieder-
legen; denn der Hund wird keinen Dieb in das Haus
kommen lassen."

"Aber wenn er einen Menschen tötet!"

"Einen einzelnen tötet er nicht; er hält ihn am
Boden fest, bis ich komme. Aber wenn ein zweiter so un-
vorsichtig wäre, nachzusteigen, so wird er den ersten aller-
dings töten, um den zweiten packen zu können."

"Chodih, so ist bereits ein Unglück geschehen!"

"Inwiefern denn?"

"Es ist bereits ein zweiter emporgestiegen!"

"Weißt du das gewiß?"

"Ganz gewiß."

"Oh, Nezanum, so bist du also dabei gewesen, als
diese Diebe uns überfallen wollten! Was muß ich von dir
und von euer Gastfreundschaft denken!"

"Ich war nicht dabei, sondern man hat es mir gesagt."

"So ist jener dabei gewesen, welcher es dir sagte!"

"Nein, er hat es auch nur erst vernommen."

"Das bleibt sich gleich. Wer es zuerst gesagt hat, ist
doch bei den Dieben gewesen. Aber was gehen mich diese
an! Ich habe keinem Menschen erlaubt, auf mein Dach
zu steigen, und wer es dennoch thut, der mag auch zusehen,
wie er ohne mich wieder herunterkommt. Gute Nacht,
Nezanum!"

"So willst du nicht nachsehen?"

„Es wurde vorhin einem Bewohner des Dorfes ſeine
Leiter geſtohlen, und als er ſie ſuchte, fand er ſie an
eurem Hauſe lehnen. Es ſtanden einige fremde Leute da-
bei, die aber ſchnell entflohen. Da dachten wir, daß es
Diebe ſeien, die in euer Haus eindringen wollten, und
daher bin ich gekommen, um es euch zu ſagen.“

„Ich danke dir! Aber du kannſt ruhig ſein und
wieder gehen, und auch wir werden uns wieder nieder-
legen; denn der Hund wird keinen Dieb in das Haus
kommen laſſen.“

„Aber wenn er einen Menſchen tötet!“

„Einen einzelnen tötet er nicht; er hält ihn am
Boden feſt, bis ich komme. Aber wenn ein zweiter ſo un-
vorſichtig wäre, nachzuſteigen, ſo wird er den erſten aller-
dings töten, um den zweiten packen zu können.“

„Chodih, ſo iſt bereits ein Unglück geſchehen!“

„Inwiefern denn?“

„Es iſt bereits ein zweiter emporgeſtiegen!“

„Weißt du das gewiß?“

„Ganz gewiß.“

„Oh, Nezanum, ſo biſt du alſo dabei geweſen, als
dieſe Diebe uns überfallen wollten! Was muß ich von dir
und von euer Gaſtfreundſchaft denken!“

„Ich war nicht dabei, ſondern man hat es mir geſagt.“

„So iſt jener dabei geweſen, welcher es dir ſagte!“

„Nein, er hat es auch nur erſt vernommen.“

„Das bleibt ſich gleich. Wer es zuerſt geſagt hat, iſt
doch bei den Dieben geweſen. Aber was gehen mich dieſe
an! Ich habe keinem Menſchen erlaubt, auf mein Dach
zu ſteigen, und wer es dennoch thut, der mag auch zuſehen,
wie er ohne mich wieder herunterkommt. Gute Nacht,
Nezanum!“

„So willſt du nicht nachſehen?“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0409" n="395"/>
        <p>&#x201E;Es wurde vorhin einem Bewohner des Dorfes &#x017F;eine<lb/>
Leiter ge&#x017F;tohlen, und als er &#x017F;ie &#x017F;uchte, fand er &#x017F;ie an<lb/>
eurem Hau&#x017F;e lehnen. Es &#x017F;tanden einige fremde Leute da-<lb/>
bei, die aber &#x017F;chnell entflohen. Da dachten wir, daß es<lb/>
Diebe &#x017F;eien, die in euer Haus eindringen wollten, und<lb/>
daher bin ich gekommen, um es euch zu &#x017F;agen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich danke dir! Aber du kann&#x017F;t ruhig &#x017F;ein und<lb/>
wieder gehen, und auch wir werden uns wieder nieder-<lb/>
legen; denn der Hund wird keinen Dieb in das Haus<lb/>
kommen la&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber wenn er einen Men&#x017F;chen tötet!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Einen einzelnen tötet er nicht; er hält ihn am<lb/>
Boden fe&#x017F;t, bis ich komme. Aber wenn ein zweiter &#x017F;o un-<lb/>
vor&#x017F;ichtig wäre, nachzu&#x017F;teigen, &#x017F;o wird er den er&#x017F;ten aller-<lb/>
dings töten, um den zweiten packen zu können.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Chodih, &#x017F;o i&#x017F;t bereits ein Unglück ge&#x017F;chehen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Inwiefern denn?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es i&#x017F;t bereits ein zweiter emporge&#x017F;tiegen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Weißt du das gewiß?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ganz gewiß.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Oh, Nezanum, &#x017F;o bi&#x017F;t du al&#x017F;o dabei gewe&#x017F;en, als<lb/>
die&#x017F;e Diebe uns überfallen wollten! Was muß ich von dir<lb/>
und von euer Ga&#x017F;tfreund&#x017F;chaft denken!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich war nicht dabei, &#x017F;ondern man hat es mir ge&#x017F;agt.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;So i&#x017F;t jener dabei gewe&#x017F;en, welcher es dir &#x017F;agte!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein, er hat es auch nur er&#x017F;t vernommen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Das bleibt &#x017F;ich gleich. Wer es zuer&#x017F;t ge&#x017F;agt hat, i&#x017F;t<lb/>
doch bei den Dieben gewe&#x017F;en. Aber was gehen mich die&#x017F;e<lb/>
an! Ich habe keinem Men&#x017F;chen erlaubt, auf mein Dach<lb/>
zu &#x017F;teigen, und wer es dennoch thut, der mag auch zu&#x017F;ehen,<lb/>
wie er ohne mich wieder herunterkommt. Gute Nacht,<lb/>
Nezanum!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;So will&#x017F;t du nicht nach&#x017F;ehen?&#x201C;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[395/0409] „Es wurde vorhin einem Bewohner des Dorfes ſeine Leiter geſtohlen, und als er ſie ſuchte, fand er ſie an eurem Hauſe lehnen. Es ſtanden einige fremde Leute da- bei, die aber ſchnell entflohen. Da dachten wir, daß es Diebe ſeien, die in euer Haus eindringen wollten, und daher bin ich gekommen, um es euch zu ſagen.“ „Ich danke dir! Aber du kannſt ruhig ſein und wieder gehen, und auch wir werden uns wieder nieder- legen; denn der Hund wird keinen Dieb in das Haus kommen laſſen.“ „Aber wenn er einen Menſchen tötet!“ „Einen einzelnen tötet er nicht; er hält ihn am Boden feſt, bis ich komme. Aber wenn ein zweiter ſo un- vorſichtig wäre, nachzuſteigen, ſo wird er den erſten aller- dings töten, um den zweiten packen zu können.“ „Chodih, ſo iſt bereits ein Unglück geſchehen!“ „Inwiefern denn?“ „Es iſt bereits ein zweiter emporgeſtiegen!“ „Weißt du das gewiß?“ „Ganz gewiß.“ „Oh, Nezanum, ſo biſt du alſo dabei geweſen, als dieſe Diebe uns überfallen wollten! Was muß ich von dir und von euer Gaſtfreundſchaft denken!“ „Ich war nicht dabei, ſondern man hat es mir geſagt.“ „So iſt jener dabei geweſen, welcher es dir ſagte!“ „Nein, er hat es auch nur erſt vernommen.“ „Das bleibt ſich gleich. Wer es zuerſt geſagt hat, iſt doch bei den Dieben geweſen. Aber was gehen mich dieſe an! Ich habe keinem Menſchen erlaubt, auf mein Dach zu ſteigen, und wer es dennoch thut, der mag auch zuſehen, wie er ohne mich wieder herunterkommt. Gute Nacht, Nezanum!“ „So willſt du nicht nachſehen?“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/409
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/409>, abgerufen am 23.12.2024.