dabei auf die in der Nähe grasenden Tiere und nach dem Ausgange des Thales zu genickt. "Ich denke, ich soll nicht dein Gefangener sein?"
"Du zwingst mich, obgleich du dir sagen könntest, daß alle deine Bemühungen erfolglos sein werden."
Ich sah, daß Halef mich verstanden hatte; denn er flüsterte mit den andern, die ihm zunickten, und sah dann bedeutungsvoll zu mir herüber.
"Melek, ich will dir etwas sagen," meinte ich, indem ich zu ihm trat und ihm die Hand auf die Achsel legte; denn ich sah, daß der Augenblick gekommen war. "Blicke einmal hier das Thal hinauf!"
Er drehte sich um, so daß er den Gefangenen den Rücken zuwandte, und sagte: "Warum?"
"Während du nach dieser Seite blickst," erwiderte ich, "wird sich hinter deinem Rücken das begeben, was du für unmöglich hältst!"
"Was meinst du?" fragte er verwundert. Ich ant- wortete ihm nicht sogleich.
Wirklich waren in diesem Moment die Gefangenen auf- und zu den Pferden gesprungen. Sie hatten dieselben bestiegen, noch ehe der erste Alarmruf erscholl. Auch der Engländer saß auf und folgte ihnen in der Weise, daß er eine Anzahl von Männern, die sich zur Verfolgung erhoben hatten, über den Haufen ritt.
"Deine Gefangenen entfliehen," antwortete ich jetzt gemächlich.
Es war eine sehr kindliche List gewesen, die ich an- wandte, um seine Augen und auch diejenigen der Um- sitzenden in dem entscheidenden Moment von den Gefange- nen abzulenken; aber sie war gelungen. Er fuhr herum.
"Ihnen nach!" rief er und sprang zu seinem Pferde. Es war ein kurdischer Falbenhengst von ausgezeichneter
dabei auf die in der Nähe graſenden Tiere und nach dem Ausgange des Thales zu genickt. „Ich denke, ich ſoll nicht dein Gefangener ſein?“
„Du zwingſt mich, obgleich du dir ſagen könnteſt, daß alle deine Bemühungen erfolglos ſein werden.“
Ich ſah, daß Halef mich verſtanden hatte; denn er flüſterte mit den andern, die ihm zunickten, und ſah dann bedeutungsvoll zu mir herüber.
„Melek, ich will dir etwas ſagen,“ meinte ich, indem ich zu ihm trat und ihm die Hand auf die Achſel legte; denn ich ſah, daß der Augenblick gekommen war. „Blicke einmal hier das Thal hinauf!“
Er drehte ſich um, ſo daß er den Gefangenen den Rücken zuwandte, und ſagte: „Warum?“
„Während du nach dieſer Seite blickſt,“ erwiderte ich, „wird ſich hinter deinem Rücken das begeben, was du für unmöglich hältſt!“
„Was meinſt du?“ fragte er verwundert. Ich ant- wortete ihm nicht ſogleich.
Wirklich waren in dieſem Moment die Gefangenen auf- und zu den Pferden geſprungen. Sie hatten dieſelben beſtiegen, noch ehe der erſte Alarmruf erſcholl. Auch der Engländer ſaß auf und folgte ihnen in der Weiſe, daß er eine Anzahl von Männern, die ſich zur Verfolgung erhoben hatten, über den Haufen ritt.
„Deine Gefangenen entfliehen,“ antwortete ich jetzt gemächlich.
Es war eine ſehr kindliche Liſt geweſen, die ich an- wandte, um ſeine Augen und auch diejenigen der Um- ſitzenden in dem entſcheidenden Moment von den Gefange- nen abzulenken; aber ſie war gelungen. Er fuhr herum.
„Ihnen nach!“ rief er und ſprang zu ſeinem Pferde. Es war ein kurdiſcher Falbenhengſt von ausgezeichneter
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dabei auf die in der Nähe graſenden Tiere und nach dem
Ausgange des Thales zu genickt. „Ich denke, ich ſoll
nicht dein Gefangener ſein?“
„Du zwingſt mich, obgleich du dir ſagen könnteſt,
daß alle deine Bemühungen erfolglos ſein werden.“
Ich ſah, daß Halef mich verſtanden hatte; denn er
flüſterte mit den andern, die ihm zunickten, und ſah dann
bedeutungsvoll zu mir herüber.
„Melek, ich will dir etwas ſagen,“ meinte ich, indem
ich zu ihm trat und ihm die Hand auf die Achſel legte;
denn ich ſah, daß der Augenblick gekommen war. „Blicke
einmal hier das Thal hinauf!“
Er drehte ſich um, ſo daß er den Gefangenen den
Rücken zuwandte, und ſagte: „Warum?“
„Während du nach dieſer Seite blickſt,“ erwiderte
ich, „wird ſich hinter deinem Rücken das begeben, was
du für unmöglich hältſt!“
„Was meinſt du?“ fragte er verwundert. Ich ant-
wortete ihm nicht ſogleich.
Wirklich waren in dieſem Moment die Gefangenen
auf- und zu den Pferden geſprungen. Sie hatten dieſelben
beſtiegen, noch ehe der erſte Alarmruf erſcholl. Auch der
Engländer ſaß auf und folgte ihnen in der Weiſe, daß
er eine Anzahl von Männern, die ſich zur Verfolgung
erhoben hatten, über den Haufen ritt.
„Deine Gefangenen entfliehen,“ antwortete ich jetzt
gemächlich.
Es war eine ſehr kindliche Liſt geweſen, die ich an-
wandte, um ſeine Augen und auch diejenigen der Um-
ſitzenden in dem entſcheidenden Moment von den Gefange-
nen abzulenken; aber ſie war gelungen. Er fuhr herum.
„Ihnen nach!“ rief er und ſprang zu ſeinem Pferde.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/496>, abgerufen am 23.12.2024.
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