"Hast du den großen Helden wiedergefangen, der so tapfer ist, daß er am liebsten flüchtet? Er ist rück- wärts gelaufen wie ein Keftschinik *), der nur unreines Fleisch verzehrt. Binde ihm die Hände und Füße, damit er nicht nochmals entlaufen kann!"
So fragte höhnisch der Bruder des Melek.
Das durfte ich mir allerdings nicht bieten lassen. Nahm ich eine solche Beleidigung ruhig hin, so war es ganz sicher um den Respekt geschehen, dessen wir so not- wendig bedurften. Darum gab ich Halef die Zügel meines Pferdes und trat hart an den Sprecher heran:
"Mann, du hast zu schweigen! Wie kann ein Lügner und Verräter es wagen, ehrliche Leute zu beschimpfen!"
"Was wagest du!" schrie er mich an. "Einen Ver- räter nennst du mich? Sage noch einmal dieses Wort, so schlage ich dich zu Boden!"
Ich antwortete kühl, aber ernst:
"Versuche doch einmal, ob du dies zu stande bringst! Ich habe dich einen Lügner und Verräter genannt, und das bist du auch. Du nanntest uns deine Gäste, um uns sicher zu machen, und nahmst uns dann gefangen, um mein Pferd zu stehlen. Du bist nicht nur ein Lügner und Verräter, sondern auch ein Dieb, der seine Gäste betrügt."
Da erhob er die Faust; aber noch ehe er zu schlagen vermochte, lag er am Boden, ohne daß ich ihn angerührt hatte. Mein Hund war jeder seiner Bewegungen gefolgt und hatte ihn niedergerissen. Er stand über ihm und legte seine Zähne so fühlbar an die Gurgel des Mannes, daß dieser weder einen Laut noch eine Bewegung wagte.
"Rufe den Hund zurück, sonst steche ich ihn nieder!" befahl mir der Melek.
*) Krebs.
„Haſt du den großen Helden wiedergefangen, der ſo tapfer iſt, daß er am liebſten flüchtet? Er iſt rück- wärts gelaufen wie ein Keftſchinik *), der nur unreines Fleiſch verzehrt. Binde ihm die Hände und Füße, damit er nicht nochmals entlaufen kann!“
So fragte höhniſch der Bruder des Melek.
Das durfte ich mir allerdings nicht bieten laſſen. Nahm ich eine ſolche Beleidigung ruhig hin, ſo war es ganz ſicher um den Reſpekt geſchehen, deſſen wir ſo not- wendig bedurften. Darum gab ich Halef die Zügel meines Pferdes und trat hart an den Sprecher heran:
„Mann, du haſt zu ſchweigen! Wie kann ein Lügner und Verräter es wagen, ehrliche Leute zu beſchimpfen!“
„Was wageſt du!“ ſchrie er mich an. „Einen Ver- räter nennſt du mich? Sage noch einmal dieſes Wort, ſo ſchlage ich dich zu Boden!“
Ich antwortete kühl, aber ernſt:
„Verſuche doch einmal, ob du dies zu ſtande bringſt! Ich habe dich einen Lügner und Verräter genannt, und das biſt du auch. Du nannteſt uns deine Gäſte, um uns ſicher zu machen, und nahmſt uns dann gefangen, um mein Pferd zu ſtehlen. Du biſt nicht nur ein Lügner und Verräter, ſondern auch ein Dieb, der ſeine Gäſte betrügt.“
Da erhob er die Fauſt; aber noch ehe er zu ſchlagen vermochte, lag er am Boden, ohne daß ich ihn angerührt hatte. Mein Hund war jeder ſeiner Bewegungen gefolgt und hatte ihn niedergeriſſen. Er ſtand über ihm und legte ſeine Zähne ſo fühlbar an die Gurgel des Mannes, daß dieſer weder einen Laut noch eine Bewegung wagte.
„Rufe den Hund zurück, ſonſt ſteche ich ihn nieder!“ befahl mir der Melek.
*) Krebs.
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„Haſt du den großen Helden wiedergefangen, der
ſo tapfer iſt, daß er am liebſten flüchtet? Er iſt rück-
wärts gelaufen wie ein Keftſchinik *), der nur unreines
Fleiſch verzehrt. Binde ihm die Hände und Füße, damit
er nicht nochmals entlaufen kann!“
So fragte höhniſch der Bruder des Melek.
Das durfte ich mir allerdings nicht bieten laſſen.
Nahm ich eine ſolche Beleidigung ruhig hin, ſo war es
ganz ſicher um den Reſpekt geſchehen, deſſen wir ſo not-
wendig bedurften. Darum gab ich Halef die Zügel meines
Pferdes und trat hart an den Sprecher heran:
„Mann, du haſt zu ſchweigen! Wie kann ein Lügner
und Verräter es wagen, ehrliche Leute zu beſchimpfen!“
„Was wageſt du!“ ſchrie er mich an. „Einen Ver-
räter nennſt du mich? Sage noch einmal dieſes Wort,
ſo ſchlage ich dich zu Boden!“
Ich antwortete kühl, aber ernſt:
„Verſuche doch einmal, ob du dies zu ſtande bringſt!
Ich habe dich einen Lügner und Verräter genannt, und
das biſt du auch. Du nannteſt uns deine Gäſte, um
uns ſicher zu machen, und nahmſt uns dann gefangen,
um mein Pferd zu ſtehlen. Du biſt nicht nur ein Lügner
und Verräter, ſondern auch ein Dieb, der ſeine Gäſte
betrügt.“
Da erhob er die Fauſt; aber noch ehe er zu ſchlagen
vermochte, lag er am Boden, ohne daß ich ihn angerührt
hatte. Mein Hund war jeder ſeiner Bewegungen gefolgt
und hatte ihn niedergeriſſen. Er ſtand über ihm und
legte ſeine Zähne ſo fühlbar an die Gurgel des Mannes,
daß dieſer weder einen Laut noch eine Bewegung wagte.
„Rufe den Hund zurück, ſonſt ſteche ich ihn nieder!“
befahl mir der Melek.
*) Krebs.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/507>, abgerufen am 23.12.2024.
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