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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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mag sich in acht nehmen vor mir, sonst erfährt er, wer
der Starke ist: er oder ich. Laß uns weiterziehen; ich
kam nur, um dir Willkommen zu sagen."

Dieser Mann war mir ganz sicher an Körperstärke
weit überlegen; aber es war nur eine rohe, ungeschulte
Kraft, die mir keineswegs bange machen konnte. Daher
erwiderte ich zwar kein einziges Wort auf seine ,Ver-
zeihung', fühlte aber auch nicht etwa einen übermäßigen
Respekt vor ihm. Dabei hatte ich eine gewisse Ahnung,
daß ich mit ihm doch auf irgend eine Weise näher zu-
sammengeraten werde.

Wir setzten den unterbrochenen Ritt weiter fort und
gelangten bald an den Ort unserer Bestimmung.

Die elenden Häuser und Hütten, aus denen Lizan
besteht, liegen zu beiden Seiten des Zab, der hier sehr
reißend ist. In seinem Bette liegen zahlreiche Felsblöcke,
die das Flößen und Schwimmen außerordentlich er-
schweren, und die Brücke, die ihn überspannt, ist aus
rohem Flechtwerk gefertigt und mittels großer, schwerer
Steine über einige Pfeiler befestigt. Dieses Flechtwerk
giebt bei jedem Schritte nach, so daß mein Pferd nur
sehr ängstlich die Brücke passierte; doch kamen wir wohl-
behalten alle an dem linken Ufer an.

Bereits drüben auf der andern Seite war unser Zug
von Frauen und Kindern mit Jubelgeschrei empfangen
worden. Die wenigen Häuser, welche ich erblickte, waren
jedenfalls als Wohnort so vieler viel zu eng, und so ver-
mutete ich, daß unter den Anwesenden auch zahlreiche
Bewohner benachbarter Orte zu finden seien.

Das Haus des Melek, wo wir absteigen wollten, lag
auf dem linken Ufer des Zab. Es war ganz nach kurdi-
scher Art, aber halb in das Wasser des Flusses hinein-
gebaut, wo der kühlende und stärkere Luftzug die Mücken

mag ſich in acht nehmen vor mir, ſonſt erfährt er, wer
der Starke iſt: er oder ich. Laß uns weiterziehen; ich
kam nur, um dir Willkommen zu ſagen.“

Dieſer Mann war mir ganz ſicher an Körperſtärke
weit überlegen; aber es war nur eine rohe, ungeſchulte
Kraft, die mir keineswegs bange machen konnte. Daher
erwiderte ich zwar kein einziges Wort auf ſeine ‚Ver-
zeihung‘, fühlte aber auch nicht etwa einen übermäßigen
Reſpekt vor ihm. Dabei hatte ich eine gewiſſe Ahnung,
daß ich mit ihm doch auf irgend eine Weiſe näher zu-
ſammengeraten werde.

Wir ſetzten den unterbrochenen Ritt weiter fort und
gelangten bald an den Ort unſerer Beſtimmung.

Die elenden Häuſer und Hütten, aus denen Lizan
beſteht, liegen zu beiden Seiten des Zab, der hier ſehr
reißend iſt. In ſeinem Bette liegen zahlreiche Felsblöcke,
die das Flößen und Schwimmen außerordentlich er-
ſchweren, und die Brücke, die ihn überſpannt, iſt aus
rohem Flechtwerk gefertigt und mittels großer, ſchwerer
Steine über einige Pfeiler befeſtigt. Dieſes Flechtwerk
giebt bei jedem Schritte nach, ſo daß mein Pferd nur
ſehr ängſtlich die Brücke paſſierte; doch kamen wir wohl-
behalten alle an dem linken Ufer an.

Bereits drüben auf der andern Seite war unſer Zug
von Frauen und Kindern mit Jubelgeſchrei empfangen
worden. Die wenigen Häuſer, welche ich erblickte, waren
jedenfalls als Wohnort ſo vieler viel zu eng, und ſo ver-
mutete ich, daß unter den Anweſenden auch zahlreiche
Bewohner benachbarter Orte zu finden ſeien.

Das Haus des Melek, wo wir abſteigen wollten, lag
auf dem linken Ufer des Zab. Es war ganz nach kurdi-
ſcher Art, aber halb in das Waſſer des Fluſſes hinein-
gebaut, wo der kühlende und ſtärkere Luftzug die Mücken

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[512/0526] mag ſich in acht nehmen vor mir, ſonſt erfährt er, wer der Starke iſt: er oder ich. Laß uns weiterziehen; ich kam nur, um dir Willkommen zu ſagen.“ Dieſer Mann war mir ganz ſicher an Körperſtärke weit überlegen; aber es war nur eine rohe, ungeſchulte Kraft, die mir keineswegs bange machen konnte. Daher erwiderte ich zwar kein einziges Wort auf ſeine ‚Ver- zeihung‘, fühlte aber auch nicht etwa einen übermäßigen Reſpekt vor ihm. Dabei hatte ich eine gewiſſe Ahnung, daß ich mit ihm doch auf irgend eine Weiſe näher zu- ſammengeraten werde. Wir ſetzten den unterbrochenen Ritt weiter fort und gelangten bald an den Ort unſerer Beſtimmung. Die elenden Häuſer und Hütten, aus denen Lizan beſteht, liegen zu beiden Seiten des Zab, der hier ſehr reißend iſt. In ſeinem Bette liegen zahlreiche Felsblöcke, die das Flößen und Schwimmen außerordentlich er- ſchweren, und die Brücke, die ihn überſpannt, iſt aus rohem Flechtwerk gefertigt und mittels großer, ſchwerer Steine über einige Pfeiler befeſtigt. Dieſes Flechtwerk giebt bei jedem Schritte nach, ſo daß mein Pferd nur ſehr ängſtlich die Brücke paſſierte; doch kamen wir wohl- behalten alle an dem linken Ufer an. Bereits drüben auf der andern Seite war unſer Zug von Frauen und Kindern mit Jubelgeſchrei empfangen worden. Die wenigen Häuſer, welche ich erblickte, waren jedenfalls als Wohnort ſo vieler viel zu eng, und ſo ver- mutete ich, daß unter den Anweſenden auch zahlreiche Bewohner benachbarter Orte zu finden ſeien. Das Haus des Melek, wo wir abſteigen wollten, lag auf dem linken Ufer des Zab. Es war ganz nach kurdi- ſcher Art, aber halb in das Waſſer des Fluſſes hinein- gebaut, wo der kühlende und ſtärkere Luftzug die Mücken

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/526>, abgerufen am 23.12.2024.