Als wir den Platz vor dem Hause des Melek er- reichten, herrschte dort eine außerordentliche Aufregung; aber ein planvolles Handeln gab es nicht. Der Melek stand mit einigen Unteranführern beisammen; auch der Rais war bei ihnen.
Ich wollte still vorübergehen und in das Haus ein- treten; aber der Melek rief mir zu:
"Chodih, komm her zu uns!"
"Was soll er hier?" zürnte der riesige Rais. "Er ist ein Fremder, ein Feind; er gehört nicht zu uns!"
"Schweig!" gebot ihm der Melek; dann wandte er sich zu mir: "Herr, ich weiß, was du im Thale Deradsch und bei den Dschesidi erfahren hast. Willst du uns einen Rat geben?"
Diese Frage kam mir natürlich sehr willkommen, den- noch aber antwortete ich:
"Dazu wird es bereits zu spät sein."
"Warum?"
"Du hättest schon gestern handeln sollen."
"Wie meinst du dies?"
"Es ist leichter, eine Gefahr zu verhüten, als sie zu bekämpfen, wenn sie schon eingetreten ist. Hättest du die Kurden nicht angegriffen, so brauchtest du dich heute nicht gegen sie zu verteidigen."
"Das will ich nicht hören."
"Aber ich wollte es dir dennoch sagen. Wußtest du, daß heute die Kurden kommen würden?"
"Wir alle haben es gewußt."
"Warum hast du nicht die jenseitigen Pässe besetzt? Du hättest feste Stellungen erhalten, die gar nicht einzu- nehmen waren. Nun aber haben die Kurden das Gebirge bereits hinter sich und sind dir überlegen."
„Du mußt es halten. Komm.“
Als wir den Platz vor dem Hauſe des Melek er- reichten, herrſchte dort eine außerordentliche Aufregung; aber ein planvolles Handeln gab es nicht. Der Melek ſtand mit einigen Unteranführern beiſammen; auch der Raïs war bei ihnen.
Ich wollte ſtill vorübergehen und in das Haus ein- treten; aber der Melek rief mir zu:
„Chodih, komm her zu uns!“
„Was ſoll er hier?“ zürnte der rieſige Raïs. „Er iſt ein Fremder, ein Feind; er gehört nicht zu uns!“
„Schweig!“ gebot ihm der Melek; dann wandte er ſich zu mir: „Herr, ich weiß, was du im Thale Deradſch und bei den Dſcheſidi erfahren haſt. Willſt du uns einen Rat geben?“
Dieſe Frage kam mir natürlich ſehr willkommen, den- noch aber antwortete ich:
„Dazu wird es bereits zu ſpät ſein.“
„Warum?“
„Du hätteſt ſchon geſtern handeln ſollen.“
„Wie meinſt du dies?“
„Es iſt leichter, eine Gefahr zu verhüten, als ſie zu bekämpfen, wenn ſie ſchon eingetreten iſt. Hätteſt du die Kurden nicht angegriffen, ſo brauchteſt du dich heute nicht gegen ſie zu verteidigen.“
„Das will ich nicht hören.“
„Aber ich wollte es dir dennoch ſagen. Wußteſt du, daß heute die Kurden kommen würden?“
„Wir alle haben es gewußt.“
„Warum haſt du nicht die jenſeitigen Päſſe beſetzt? Du hätteſt feſte Stellungen erhalten, die gar nicht einzu- nehmen waren. Nun aber haben die Kurden das Gebirge bereits hinter ſich und ſind dir überlegen.“
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„Du mußt es halten. Komm.“
Als wir den Platz vor dem Hauſe des Melek er-
reichten, herrſchte dort eine außerordentliche Aufregung;
aber ein planvolles Handeln gab es nicht. Der Melek
ſtand mit einigen Unteranführern beiſammen; auch der
Raïs war bei ihnen.
Ich wollte ſtill vorübergehen und in das Haus ein-
treten; aber der Melek rief mir zu:
„Chodih, komm her zu uns!“
„Was ſoll er hier?“ zürnte der rieſige Raïs. „Er iſt
ein Fremder, ein Feind; er gehört nicht zu uns!“
„Schweig!“ gebot ihm der Melek; dann wandte er
ſich zu mir: „Herr, ich weiß, was du im Thale Deradſch
und bei den Dſcheſidi erfahren haſt. Willſt du uns einen
Rat geben?“
Dieſe Frage kam mir natürlich ſehr willkommen, den-
noch aber antwortete ich:
„Dazu wird es bereits zu ſpät ſein.“
„Warum?“
„Du hätteſt ſchon geſtern handeln ſollen.“
„Wie meinſt du dies?“
„Es iſt leichter, eine Gefahr zu verhüten, als ſie zu
bekämpfen, wenn ſie ſchon eingetreten iſt. Hätteſt du die
Kurden nicht angegriffen, ſo brauchteſt du dich heute nicht
gegen ſie zu verteidigen.“
„Das will ich nicht hören.“
„Aber ich wollte es dir dennoch ſagen. Wußteſt du,
daß heute die Kurden kommen würden?“
„Wir alle haben es gewußt.“
„Warum haſt du nicht die jenſeitigen Päſſe beſetzt?
Du hätteſt feſte Stellungen erhalten, die gar nicht einzu-
nehmen waren. Nun aber haben die Kurden das Gebirge
bereits hinter ſich und ſind dir überlegen.“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/540>, abgerufen am 23.12.2024.
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