"Wen trafst du in dem Hause der Kranken, welche Gift gegessen hatte?"
"Ich traf dort Marah Durimeh."
"Hat sie dir einen Talisman gegeben?"
"Nein; aber sie hat mir gesagt, wenn ich hier in Not kommen werde, so solle ich nach dem Ruh 'i kulyan fragen."
"Du bist's, du bist's, Herr!" rief sie, indem sie die Hände zusammenschlug. "Du bist der Freund von Marah Durimeh; ich werde dir helfen; ich werde dich beschützen. Erzähle mir, wie du in diese Gefangenschaft geraten bist!"
Dies war heut bereits zum dritten Male, daß ich die wunderbare Wirkung von dem Namen Marah Durimehs erlebte. Welche Macht besaß dieses geheimnisvolle Weib?
"Wer ist Marah Durimeh?" fragte ich.
"Sie ist eine alte Fürstin, deren Nachkommen vom Messias abgefallen und zu Muhammed übergetreten sind. Nun thut sie Buße für sie und wird ruhelos hin und her getrieben."
"Und wer ist der Ruh 'i kulyan?"
"Das ist ein guter Geist. Die einen sagen, es sei der Engel Gabriel, und andere meinen, daß es der Erz- engel Michael sei, der die Gläubigen beschützt. Er hat hier gewisse Orte und gewisse Zeiten, wo und wann man zu ihm kommen kann. Aber erzähle mir vorher, wie du gefangen wurdest!"
Die Erfüllung dieses Wunsches konnte mir nur Nutzen bringen. Ich überwand die Unannehmlichkeit meiner Körperlage und die Beschwerden, welche mir die Arm- fesseln verursachten, und erzählte meine Erlebnisse von Amadijah bis zur gegenwärtigen Stunde. Die Alte hörte mir mit der größten Aufmerksamkeit zu, und als ich ge- endet hatte, faßte sie fast zärtlich die eine meiner zusammen- geschnürten Hände.
„Wen trafſt du in dem Hauſe der Kranken, welche Gift gegeſſen hatte?“
„Ich traf dort Marah Durimeh.“
„Hat ſie dir einen Talisman gegeben?“
„Nein; aber ſie hat mir geſagt, wenn ich hier in Not kommen werde, ſo ſolle ich nach dem Ruh 'i kulyan fragen.“
„Du biſt's, du biſt's, Herr!“ rief ſie, indem ſie die Hände zuſammenſchlug. „Du biſt der Freund von Marah Durimeh; ich werde dir helfen; ich werde dich beſchützen. Erzähle mir, wie du in dieſe Gefangenſchaft geraten biſt!“
Dies war heut bereits zum dritten Male, daß ich die wunderbare Wirkung von dem Namen Marah Durimehs erlebte. Welche Macht beſaß dieſes geheimnisvolle Weib?
„Wer iſt Marah Durimeh?“ fragte ich.
„Sie iſt eine alte Fürſtin, deren Nachkommen vom Meſſias abgefallen und zu Muhammed übergetreten ſind. Nun thut ſie Buße für ſie und wird ruhelos hin und her getrieben.“
„Und wer iſt der Ruh 'i kulyan?“
„Das iſt ein guter Geiſt. Die einen ſagen, es ſei der Engel Gabriel, und andere meinen, daß es der Erz- engel Michael ſei, der die Gläubigen beſchützt. Er hat hier gewiſſe Orte und gewiſſe Zeiten, wo und wann man zu ihm kommen kann. Aber erzähle mir vorher, wie du gefangen wurdeſt!“
Die Erfüllung dieſes Wunſches konnte mir nur Nutzen bringen. Ich überwand die Unannehmlichkeit meiner Körperlage und die Beſchwerden, welche mir die Arm- feſſeln verurſachten, und erzählte meine Erlebniſſe von Amadijah bis zur gegenwärtigen Stunde. Die Alte hörte mir mit der größten Aufmerkſamkeit zu, und als ich ge- endet hatte, faßte ſie faſt zärtlich die eine meiner zuſammen- geſchnürten Hände.
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„Wen trafſt du in dem Hauſe der Kranken, welche
Gift gegeſſen hatte?“
„Ich traf dort Marah Durimeh.“
„Hat ſie dir einen Talisman gegeben?“
„Nein; aber ſie hat mir geſagt, wenn ich hier in Not
kommen werde, ſo ſolle ich nach dem Ruh 'i kulyan fragen.“
„Du biſt's, du biſt's, Herr!“ rief ſie, indem ſie die
Hände zuſammenſchlug. „Du biſt der Freund von Marah
Durimeh; ich werde dir helfen; ich werde dich beſchützen.
Erzähle mir, wie du in dieſe Gefangenſchaft geraten biſt!“
Dies war heut bereits zum dritten Male, daß ich
die wunderbare Wirkung von dem Namen Marah Durimehs
erlebte. Welche Macht beſaß dieſes geheimnisvolle Weib?
„Wer iſt Marah Durimeh?“ fragte ich.
„Sie iſt eine alte Fürſtin, deren Nachkommen vom
Meſſias abgefallen und zu Muhammed übergetreten ſind.
Nun thut ſie Buße für ſie und wird ruhelos hin und
her getrieben.“
„Und wer iſt der Ruh 'i kulyan?“
„Das iſt ein guter Geiſt. Die einen ſagen, es ſei
der Engel Gabriel, und andere meinen, daß es der Erz-
engel Michael ſei, der die Gläubigen beſchützt. Er hat
hier gewiſſe Orte und gewiſſe Zeiten, wo und wann man
zu ihm kommen kann. Aber erzähle mir vorher, wie du
gefangen wurdeſt!“
Die Erfüllung dieſes Wunſches konnte mir nur Nutzen
bringen. Ich überwand die Unannehmlichkeit meiner
Körperlage und die Beſchwerden, welche mir die Arm-
feſſeln verurſachten, und erzählte meine Erlebniſſe von
Amadijah bis zur gegenwärtigen Stunde. Die Alte hörte
mir mit der größten Aufmerkſamkeit zu, und als ich ge-
endet hatte, faßte ſie faſt zärtlich die eine meiner zuſammen-
geſchnürten Hände.
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/577>, abgerufen am 23.12.2024.
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