Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

ich sah den Bösen triumphieren und den Guten zu Schanden
werden; ich sah den Glücklichen weinen und den Unglück-
lichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angst,
und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in seinen
Adern. Ich weinte und lachte mit; ich stieg und sank
mit -- dann kam die Zeit, in der ich denken lernte.
Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und
daß ein lieber Vater alle bei der Hand hält, den Reichen
und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden.
Aber viele sind abgefallen von ihm; sie lachen über ihn.
Und noch andere nennen sich zwar seine Kinder, aber sie
sind dennoch die Kinder dessen, der in der Dschehennah
wohnt. Darum geht ein großes Leid hin über die Erde
und über die Menschen, die sich nicht von Gott strafen
lassen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut
kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, der der
Vater eines besseren Geschlechtes werden kann."

Sie machte eine neue Pause. Ihre Worte, der Ton
ihrer Stimme, dieses tote und doch so sprechende Auge,
ihre langsamen, müden und doch so bezeichnenden Gesten
machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann die
geistige Herrschaft zu begreifen, die dieses Weib auf die
intellektuell armen Bewohner dieses Landes ausübte. Sie
fuhr fort:

"Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen;
das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, sehr reich
an irdischen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott,
den sie verworfen hatten. Mein Leben starb, aber dieser
Gott starb nicht mit. Er berief mich, seine Dienerin zu
sein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem
Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu
predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, nicht mit
Worten, die man verlachen würde, sondern mit Thaten,

ich ſah den Böſen triumphieren und den Guten zu Schanden
werden; ich ſah den Glücklichen weinen und den Unglück-
lichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angſt,
und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in ſeinen
Adern. Ich weinte und lachte mit; ich ſtieg und ſank
mit — dann kam die Zeit, in der ich denken lernte.
Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und
daß ein lieber Vater alle bei der Hand hält, den Reichen
und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden.
Aber viele ſind abgefallen von ihm; ſie lachen über ihn.
Und noch andere nennen ſich zwar ſeine Kinder, aber ſie
ſind dennoch die Kinder deſſen, der in der Dſchehennah
wohnt. Darum geht ein großes Leid hin über die Erde
und über die Menſchen, die ſich nicht von Gott ſtrafen
laſſen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut
kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, der der
Vater eines beſſeren Geſchlechtes werden kann.“

Sie machte eine neue Pauſe. Ihre Worte, der Ton
ihrer Stimme, dieſes tote und doch ſo ſprechende Auge,
ihre langſamen, müden und doch ſo bezeichnenden Geſten
machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann die
geiſtige Herrſchaft zu begreifen, die dieſes Weib auf die
intellektuell armen Bewohner dieſes Landes ausübte. Sie
fuhr fort:

„Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen;
das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, ſehr reich
an irdiſchen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott,
den ſie verworfen hatten. Mein Leben ſtarb, aber dieſer
Gott ſtarb nicht mit. Er berief mich, ſeine Dienerin zu
ſein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem
Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu
predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, nicht mit
Worten, die man verlachen würde, ſondern mit Thaten,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0645" n="631"/>
ich &#x017F;ah den Bö&#x017F;en triumphieren und den Guten zu Schanden<lb/>
werden; ich &#x017F;ah den Glücklichen weinen und den Unglück-<lb/>
lichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Ang&#x017F;t,<lb/>
und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in &#x017F;einen<lb/>
Adern. Ich weinte und lachte mit; ich &#x017F;tieg und &#x017F;ank<lb/>
mit &#x2014; dann kam die Zeit, in der ich denken lernte.<lb/>
Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und<lb/>
daß ein lieber Vater alle bei der Hand hält, den Reichen<lb/>
und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden.<lb/>
Aber viele &#x017F;ind abgefallen von ihm; &#x017F;ie lachen über ihn.<lb/>
Und noch andere nennen &#x017F;ich zwar &#x017F;eine Kinder, aber &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind dennoch die Kinder de&#x017F;&#x017F;en, der in der D&#x017F;chehennah<lb/>
wohnt. Darum geht ein großes Leid hin über die Erde<lb/>
und über die Men&#x017F;chen, die &#x017F;ich nicht von Gott &#x017F;trafen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut<lb/>
kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, der der<lb/>
Vater eines be&#x017F;&#x017F;eren Ge&#x017F;chlechtes werden kann.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie machte eine neue Pau&#x017F;e. Ihre Worte, der Ton<lb/>
ihrer Stimme, die&#x017F;es tote und doch &#x017F;o &#x017F;prechende Auge,<lb/>
ihre lang&#x017F;amen, müden und doch &#x017F;o bezeichnenden Ge&#x017F;ten<lb/>
machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann die<lb/>
gei&#x017F;tige Herr&#x017F;chaft zu begreifen, die die&#x017F;es Weib auf die<lb/>
intellektuell armen Bewohner die&#x017F;es Landes ausübte. Sie<lb/>
fuhr fort:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen;<lb/>
das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, &#x017F;ehr reich<lb/>
an irdi&#x017F;chen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott,<lb/>
den &#x017F;ie verworfen hatten. Mein Leben &#x017F;tarb, aber die&#x017F;er<lb/>
Gott &#x017F;tarb nicht mit. Er berief mich, &#x017F;eine Dienerin zu<lb/>
&#x017F;ein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem<lb/>
Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu<lb/>
predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, nicht mit<lb/>
Worten, die man verlachen würde, &#x017F;ondern mit Thaten,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[631/0645] ich ſah den Böſen triumphieren und den Guten zu Schanden werden; ich ſah den Glücklichen weinen und den Unglück- lichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angſt, und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in ſeinen Adern. Ich weinte und lachte mit; ich ſtieg und ſank mit — dann kam die Zeit, in der ich denken lernte. Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und daß ein lieber Vater alle bei der Hand hält, den Reichen und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden. Aber viele ſind abgefallen von ihm; ſie lachen über ihn. Und noch andere nennen ſich zwar ſeine Kinder, aber ſie ſind dennoch die Kinder deſſen, der in der Dſchehennah wohnt. Darum geht ein großes Leid hin über die Erde und über die Menſchen, die ſich nicht von Gott ſtrafen laſſen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, der der Vater eines beſſeren Geſchlechtes werden kann.“ Sie machte eine neue Pauſe. Ihre Worte, der Ton ihrer Stimme, dieſes tote und doch ſo ſprechende Auge, ihre langſamen, müden und doch ſo bezeichnenden Geſten machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann die geiſtige Herrſchaft zu begreifen, die dieſes Weib auf die intellektuell armen Bewohner dieſes Landes ausübte. Sie fuhr fort: „Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen; das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, ſehr reich an irdiſchen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott, den ſie verworfen hatten. Mein Leben ſtarb, aber dieſer Gott ſtarb nicht mit. Er berief mich, ſeine Dienerin zu ſein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, nicht mit Worten, die man verlachen würde, ſondern mit Thaten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/645
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/645>, abgerufen am 23.12.2024.