"So werden wir weiter darüber reden. Jetzt aber kommt in jenes Gebäude!"
Sie ritten nach dem Tempel der Sonne, stiegen vor demselben ab und traten ein.
Mittlerweile war der Parlamentär, von Fels zu Fels springend, in grader Linie herab in das Thal und über den Bach herübergekommen. Er trat auch in den Tempel ein. Kein Schuß fiel; es herrschte Ruhe, und nur der Schritt der Soldaten ertönte, welche sich von dem oberen Teile des Thales, wo sie sich zu sehr bloßgestellt sahen, mehr nach unten ausbreiteten.
Wohl über eine halbe Stunde verging. Da trat der Parlamentär wieder in das Freie, aber nicht allein, son- dern er wurde -- geführt. Man hatte ihn gebunden. Der Miralai, welcher auch am Eingange des Gebäudes er- schien, blickte sich um, sah den Scheiterhaufen und deutete auf denselben. Es wurden zehn Arnauten herbeigerufen; diese nahmen den Mann in ihre Mitte und schleppten ihn zum Holzstoß. Während mehrere ihn hielten, griffen die andern nach ihren Gewehren -- er sollte erschossen werden.
"Halt!" rief ich zum Obersten hinüber. "Was willst du thun? Er ist ein Abgesandter, also eine unverletzliche Person!"
"Er ist ein Rebell, wie du. Erst er, dann du; denn nun wissen wir, wer die Artilleristen überfallen hat!"
Er winkte; die Schüsse krachten; der Mann war tot. Da aber geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte: durch die Soldaten drängte sich ein Mann. Es war der Pir Kamek. Er erreichte den Scheiterhaufen und kniete bei dem Toten nieder.
"Ah, ein zweiter!" rief der Oberst und schritt hinzu. "Erhebe dich und antworte mir!"
Weiter konnte ich nichts hören, denn die Entfernung
„So werden wir weiter darüber reden. Jetzt aber kommt in jenes Gebäude!“
Sie ritten nach dem Tempel der Sonne, ſtiegen vor demſelben ab und traten ein.
Mittlerweile war der Parlamentär, von Fels zu Fels ſpringend, in grader Linie herab in das Thal und über den Bach herübergekommen. Er trat auch in den Tempel ein. Kein Schuß fiel; es herrſchte Ruhe, und nur der Schritt der Soldaten ertönte, welche ſich von dem oberen Teile des Thales, wo ſie ſich zu ſehr bloßgeſtellt ſahen, mehr nach unten ausbreiteten.
Wohl über eine halbe Stunde verging. Da trat der Parlamentär wieder in das Freie, aber nicht allein, ſon- dern er wurde — geführt. Man hatte ihn gebunden. Der Miralai, welcher auch am Eingange des Gebäudes er- ſchien, blickte ſich um, ſah den Scheiterhaufen und deutete auf denſelben. Es wurden zehn Arnauten herbeigerufen; dieſe nahmen den Mann in ihre Mitte und ſchleppten ihn zum Holzſtoß. Während mehrere ihn hielten, griffen die andern nach ihren Gewehren — er ſollte erſchoſſen werden.
„Halt!“ rief ich zum Oberſten hinüber. „Was willſt du thun? Er iſt ein Abgeſandter, alſo eine unverletzliche Perſon!“
„Er iſt ein Rebell, wie du. Erſt er, dann du; denn nun wiſſen wir, wer die Artilleriſten überfallen hat!“
Er winkte; die Schüſſe krachten; der Mann war tot. Da aber geſchah etwas, was ich nicht erwartet hatte: durch die Soldaten drängte ſich ein Mann. Es war der Pir Kamek. Er erreichte den Scheiterhaufen und kniete bei dem Toten nieder.
„Ah, ein zweiter!“ rief der Oberſt und ſchritt hinzu. „Erhebe dich und antworte mir!“
Weiter konnte ich nichts hören, denn die Entfernung
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„So werden wir weiter darüber reden. Jetzt aber
kommt in jenes Gebäude!“
Sie ritten nach dem Tempel der Sonne, ſtiegen vor
demſelben ab und traten ein.
Mittlerweile war der Parlamentär, von Fels zu
Fels ſpringend, in grader Linie herab in das Thal und
über den Bach herübergekommen. Er trat auch in den
Tempel ein. Kein Schuß fiel; es herrſchte Ruhe, und nur
der Schritt der Soldaten ertönte, welche ſich von dem
oberen Teile des Thales, wo ſie ſich zu ſehr bloßgeſtellt
ſahen, mehr nach unten ausbreiteten.
Wohl über eine halbe Stunde verging. Da trat der
Parlamentär wieder in das Freie, aber nicht allein, ſon-
dern er wurde — geführt. Man hatte ihn gebunden. Der
Miralai, welcher auch am Eingange des Gebäudes er-
ſchien, blickte ſich um, ſah den Scheiterhaufen und deutete
auf denſelben. Es wurden zehn Arnauten herbeigerufen;
dieſe nahmen den Mann in ihre Mitte und ſchleppten ihn
zum Holzſtoß. Während mehrere ihn hielten, griffen die
andern nach ihren Gewehren — er ſollte erſchoſſen werden.
„Halt!“ rief ich zum Oberſten hinüber. „Was willſt
du thun? Er iſt ein Abgeſandter, alſo eine unverletzliche
Perſon!“
„Er iſt ein Rebell, wie du. Erſt er, dann du; denn
nun wiſſen wir, wer die Artilleriſten überfallen hat!“
Er winkte; die Schüſſe krachten; der Mann war tot.
Da aber geſchah etwas, was ich nicht erwartet hatte:
durch die Soldaten drängte ſich ein Mann. Es war der
Pir Kamek. Er erreichte den Scheiterhaufen und kniete
bei dem Toten nieder.
„Ah, ein zweiter!“ rief der Oberſt und ſchritt hinzu.
„Erhebe dich und antworte mir!“
Weiter konnte ich nichts hören, denn die Entfernung
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/69>, abgerufen am 22.12.2024.
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