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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 15. Umfang der Rechtskraft.
Die Entscheidungsgründe werden nur wirksam, sofern sie eine Er-
läuterung geben für das, was er gewollt hat12.

Für diese Auslegung ist in erster Linie massgebend die Aufgabe
des Urteils, wie jedes Verwaltungsaktes, Ordnung zu schaffen für den
Einzelfall, für den augenblicklichen Bedarf. Hängt die Entscheidung
ab von der Beurteilung eines Grundverhältnisses, aus welchem der
Einzelfall hervorgeht, so ist im Zweifel dieses durch die Auffassung,
welche das Urteil davon zur Geltung bringt, nicht festgestellt13. Um-
gekehrt ist das Urteil dafür anzusehen, dass es diesen Einzelfall er-
schöpfend hat ordnen wollen, so dass nur die in allen Stücken ge-
bundene thatsächliche Ausführung übrig bleibt. Und alles, was es
für das Verhältnis bestimmt, ist rechtskraftfähig, soweit nicht das
Gesetz selbst eine Grenze gezogen hat, indem es nur eine beschränkte
Rechtspflege verordnete14.

2. Die Rechtspflege und folglich die Rechtskraft kann den Fall
auch nur teilweise erfassen infolge freiwilliger Beschränkung durch
die Behörde oder die Parteien, vor allem aber infolge der gesetzlichen
Anordnung einer beschränkten Rechtspflege.

Die Civilrechtspflege giebt hierfür zweierlei Vorbilder: das eine
ist das Revisionsurteil, das andere das Teilurteil.

Im Gegensatze zur Kassation in ihrer ursprünglichen Gestalt
(oben § 14 Note 18) ist die neuere Kassation und noch mehr die
deutschrechtliche Revision keine blosse Aufsichtsmassregel, sondern
Rechtspflege und erzeugt ein rechtskraftfähiges Urteil. Wie aber
diese Rechtskraft wirkt, das hängt von der Richtung ab, in welcher
das Revisionsurteil ergeht.

12 Die Preuss. Allg. G.O. wollte den Entscheidungsgründen alle Bedeutung
absprechen; dem gegenüber hat O.V.G. 9. Dez. 1876 (Samml. I S. 87) für die
Verwaltungsrechtspflege die freiere Auffassung zur Geltung gebracht, die ja jetzt
auch die der C.Pr.O. ist; Bernatzik, Rechtskraft S. 154 ff. Vgl. aber auch
unten Note 16.
13 Beispiele: O.V.G. 2. Dez. 1876, 3. Juli 1877; insbesondere 23. April 1878:
das Urteil über eine Anforderung aus der Wegebaulast schafft nur für den einzelnen
polizeilich zu regelnden Baufall formelles Recht, auch wenn die Frage der Baulast
selbst dabei erörtert und erwogen werden musste; anders wenn die Klage auf Fest-
setzung der Verpflichtungsfrage im allgemeinen ging. -- Zu weit geht also
v. Stengel, Organis. S. 523, wenn er meint, der Verwaltungsrichter entscheide
stets nur über die einzelne Leistung. Und umgekehrt scheint Bernatzik,
Rechtskraft S. 166, eine rechtskräftige "Feststellung präjudizieller Rechtsverhältnisse"
bloss in den Motiven allzu leicht anzunehmen.
14 Ob der Betroffene etwas hat von der Rechtskraft und von seinem Recht
an dem Urteil, das hängt natürlich von dem sachlichen Inhalt ab; vgl. unten
III n. 1.

§ 15. Umfang der Rechtskraft.
Die Entscheidungsgründe werden nur wirksam, sofern sie eine Er-
läuterung geben für das, was er gewollt hat12.

Für diese Auslegung ist in erster Linie maſsgebend die Aufgabe
des Urteils, wie jedes Verwaltungsaktes, Ordnung zu schaffen für den
Einzelfall, für den augenblicklichen Bedarf. Hängt die Entscheidung
ab von der Beurteilung eines Grundverhältnisses, aus welchem der
Einzelfall hervorgeht, so ist im Zweifel dieses durch die Auffassung,
welche das Urteil davon zur Geltung bringt, nicht festgestellt13. Um-
gekehrt ist das Urteil dafür anzusehen, daſs es diesen Einzelfall er-
schöpfend hat ordnen wollen, so daſs nur die in allen Stücken ge-
bundene thatsächliche Ausführung übrig bleibt. Und alles, was es
für das Verhältnis bestimmt, ist rechtskraftfähig, soweit nicht das
Gesetz selbst eine Grenze gezogen hat, indem es nur eine beschränkte
Rechtspflege verordnete14.

2. Die Rechtspflege und folglich die Rechtskraft kann den Fall
auch nur teilweise erfassen infolge freiwilliger Beschränkung durch
die Behörde oder die Parteien, vor allem aber infolge der gesetzlichen
Anordnung einer beschränkten Rechtspflege.

Die Civilrechtspflege giebt hierfür zweierlei Vorbilder: das eine
ist das Revisionsurteil, das andere das Teilurteil.

Im Gegensatze zur Kassation in ihrer ursprünglichen Gestalt
(oben § 14 Note 18) ist die neuere Kassation und noch mehr die
deutschrechtliche Revision keine bloſse Aufsichtsmaſsregel, sondern
Rechtspflege und erzeugt ein rechtskraftfähiges Urteil. Wie aber
diese Rechtskraft wirkt, das hängt von der Richtung ab, in welcher
das Revisionsurteil ergeht.

12 Die Preuſs. Allg. G.O. wollte den Entscheidungsgründen alle Bedeutung
absprechen; dem gegenüber hat O.V.G. 9. Dez. 1876 (Samml. I S. 87) für die
Verwaltungsrechtspflege die freiere Auffassung zur Geltung gebracht, die ja jetzt
auch die der C.Pr.O. ist; Bernatzik, Rechtskraft S. 154 ff. Vgl. aber auch
unten Note 16.
13 Beispiele: O.V.G. 2. Dez. 1876, 3. Juli 1877; insbesondere 23. April 1878:
das Urteil über eine Anforderung aus der Wegebaulast schafft nur für den einzelnen
polizeilich zu regelnden Baufall formelles Recht, auch wenn die Frage der Baulast
selbst dabei erörtert und erwogen werden muſste; anders wenn die Klage auf Fest-
setzung der Verpflichtungsfrage im allgemeinen ging. — Zu weit geht also
v. Stengel, Organis. S. 523, wenn er meint, der Verwaltungsrichter entscheide
stets nur über die einzelne Leistung. Und umgekehrt scheint Bernatzik,
Rechtskraft S. 166, eine rechtskräftige „Feststellung präjudizieller Rechtsverhältnisse“
bloſs in den Motiven allzu leicht anzunehmen.
14 Ob der Betroffene etwas hat von der Rechtskraft und von seinem Recht
an dem Urteil, das hängt natürlich von dem sachlichen Inhalt ab; vgl. unten
III n. 1.
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[201/0221] § 15. Umfang der Rechtskraft. Die Entscheidungsgründe werden nur wirksam, sofern sie eine Er- läuterung geben für das, was er gewollt hat 12. Für diese Auslegung ist in erster Linie maſsgebend die Aufgabe des Urteils, wie jedes Verwaltungsaktes, Ordnung zu schaffen für den Einzelfall, für den augenblicklichen Bedarf. Hängt die Entscheidung ab von der Beurteilung eines Grundverhältnisses, aus welchem der Einzelfall hervorgeht, so ist im Zweifel dieses durch die Auffassung, welche das Urteil davon zur Geltung bringt, nicht festgestellt 13. Um- gekehrt ist das Urteil dafür anzusehen, daſs es diesen Einzelfall er- schöpfend hat ordnen wollen, so daſs nur die in allen Stücken ge- bundene thatsächliche Ausführung übrig bleibt. Und alles, was es für das Verhältnis bestimmt, ist rechtskraftfähig, soweit nicht das Gesetz selbst eine Grenze gezogen hat, indem es nur eine beschränkte Rechtspflege verordnete 14. 2. Die Rechtspflege und folglich die Rechtskraft kann den Fall auch nur teilweise erfassen infolge freiwilliger Beschränkung durch die Behörde oder die Parteien, vor allem aber infolge der gesetzlichen Anordnung einer beschränkten Rechtspflege. Die Civilrechtspflege giebt hierfür zweierlei Vorbilder: das eine ist das Revisionsurteil, das andere das Teilurteil. Im Gegensatze zur Kassation in ihrer ursprünglichen Gestalt (oben § 14 Note 18) ist die neuere Kassation und noch mehr die deutschrechtliche Revision keine bloſse Aufsichtsmaſsregel, sondern Rechtspflege und erzeugt ein rechtskraftfähiges Urteil. Wie aber diese Rechtskraft wirkt, das hängt von der Richtung ab, in welcher das Revisionsurteil ergeht. 12 Die Preuſs. Allg. G.O. wollte den Entscheidungsgründen alle Bedeutung absprechen; dem gegenüber hat O.V.G. 9. Dez. 1876 (Samml. I S. 87) für die Verwaltungsrechtspflege die freiere Auffassung zur Geltung gebracht, die ja jetzt auch die der C.Pr.O. ist; Bernatzik, Rechtskraft S. 154 ff. Vgl. aber auch unten Note 16. 13 Beispiele: O.V.G. 2. Dez. 1876, 3. Juli 1877; insbesondere 23. April 1878: das Urteil über eine Anforderung aus der Wegebaulast schafft nur für den einzelnen polizeilich zu regelnden Baufall formelles Recht, auch wenn die Frage der Baulast selbst dabei erörtert und erwogen werden muſste; anders wenn die Klage auf Fest- setzung der Verpflichtungsfrage im allgemeinen ging. — Zu weit geht also v. Stengel, Organis. S. 523, wenn er meint, der Verwaltungsrichter entscheide stets nur über die einzelne Leistung. Und umgekehrt scheint Bernatzik, Rechtskraft S. 166, eine rechtskräftige „Feststellung präjudizieller Rechtsverhältnisse“ bloſs in den Motiven allzu leicht anzunehmen. 14 Ob der Betroffene etwas hat von der Rechtskraft und von seinem Recht an dem Urteil, das hängt natürlich von dem sachlichen Inhalt ab; vgl. unten III n. 1.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/221>, abgerufen am 22.12.2024.