Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichtliche Entwicklungsstufen.
Art der gegenwärtigen zunächst durch die Verwirklichung eines
anarchistischen Ideals abgelöst worden und darauf wieder eine Ord-
nung im Sinne des Socialismus gefolgt.

Die Übergänge vollziehen sich nicht allerorten in Deutschland
gleichmässig und in einem Zuge; bald schreitet die eine, bald die
andere Staatengruppe voran und die übrigen bleiben daneben eine
Zeit lang noch auf der vorausgehenden Entwicklungsstufe stehen.
Im ganzen hat sich aber die ganze Entwicklung so rasch abgespielt,
dass wir allgemeine Rechtszustände, die ganz auf den Grundlagen der
ersten Stufe stehen, noch fast mit der Hand erreichen können. Lang-
sam hatten sich die landesherrlichen Hoheitsrechte ausgebildet; einzelne
deutsche Staatswesen beharrten in dieser Grundform bis zur Auf-
lösung des alten Reichs zu Anfang dieses Jahrhunderts. Rasch und
mit gewaltiger Spannkraft war daneben der absolutistische Polizei-
staat emporgestiegen, um die alte Ordnung zu zerstören; im vorigen
Jahrhundert hat er seinen Höhepunkt erreicht. Im Zusammenhang
mit der Ausbildung des neuen Verfassungsrechts hat ihn erst im Ver-
laufe dieses Jahrhunderts die Idee des Rechtsstaates überwunden.

Diesem raschen Gange entspricht der Zustand, der uns vor
Augen liegt.

Das wirkliche Recht ist noch erfüllt mit Trümmern vorausgehender
Entwicklungsstufen, die als Widerspruch mit den Grundgedanken
des neuen Rechts dastehen und allmählich verschwinden oder sich
umbilden müssen.

Die Wissenschaft ihrerseits ist noch vielfach gebunden in
älteren Anschauungen, die zum neuen Rechte nicht mehr passen, und
hängt noch an Ausdrucksweisen, welche heute nur in gänzlich ver-
ändertem Sinne zu gebrauchen sind.

Wer sich hier zurechtfinden soll, für den ist die erste Be-
dingung, dass er der geschichtlichen Gegensätze sich immer klar be-
wusst bleibt.

I. Was wir jetzt Verwaltung nennen, hat seinen Ausgang ge-
nommen nicht vom deutschen Reich, sondern von den Territorien.
Für die Ordnung des Verhältnisses zwischen den Einzelnen unter ein-
ander war das römische Recht recipiert; für die Ordnung des Ver-
hältnisses zwischen dem Staat und den Unterthanen nicht also. Die
ihm eigentümliche Idee des allgewaltigen Staates ist verloren gegangen.
Die majestas populi Romani, in deren Namen der Wille der römischen
Magistrate dem Einzelnen stets als der höhere, rechtlich bindende gegen-
über trat, war noch in den Einrichtungen der römischen Kaiserzeit

Geschichtliche Entwicklungsstufen.
Art der gegenwärtigen zunächst durch die Verwirklichung eines
anarchistischen Ideals abgelöst worden und darauf wieder eine Ord-
nung im Sinne des Socialismus gefolgt.

Die Übergänge vollziehen sich nicht allerorten in Deutschland
gleichmäſsig und in einem Zuge; bald schreitet die eine, bald die
andere Staatengruppe voran und die übrigen bleiben daneben eine
Zeit lang noch auf der vorausgehenden Entwicklungsstufe stehen.
Im ganzen hat sich aber die ganze Entwicklung so rasch abgespielt,
daſs wir allgemeine Rechtszustände, die ganz auf den Grundlagen der
ersten Stufe stehen, noch fast mit der Hand erreichen können. Lang-
sam hatten sich die landesherrlichen Hoheitsrechte ausgebildet; einzelne
deutsche Staatswesen beharrten in dieser Grundform bis zur Auf-
lösung des alten Reichs zu Anfang dieses Jahrhunderts. Rasch und
mit gewaltiger Spannkraft war daneben der absolutistische Polizei-
staat emporgestiegen, um die alte Ordnung zu zerstören; im vorigen
Jahrhundert hat er seinen Höhepunkt erreicht. Im Zusammenhang
mit der Ausbildung des neuen Verfassungsrechts hat ihn erst im Ver-
laufe dieses Jahrhunderts die Idee des Rechtsstaates überwunden.

Diesem raschen Gange entspricht der Zustand, der uns vor
Augen liegt.

Das wirkliche Recht ist noch erfüllt mit Trümmern vorausgehender
Entwicklungsstufen, die als Widerspruch mit den Grundgedanken
des neuen Rechts dastehen und allmählich verschwinden oder sich
umbilden müssen.

Die Wissenschaft ihrerseits ist noch vielfach gebunden in
älteren Anschauungen, die zum neuen Rechte nicht mehr passen, und
hängt noch an Ausdrucksweisen, welche heute nur in gänzlich ver-
ändertem Sinne zu gebrauchen sind.

Wer sich hier zurechtfinden soll, für den ist die erste Be-
dingung, daſs er der geschichtlichen Gegensätze sich immer klar be-
wuſst bleibt.

I. Was wir jetzt Verwaltung nennen, hat seinen Ausgang ge-
nommen nicht vom deutschen Reich, sondern von den Territorien.
Für die Ordnung des Verhältnisses zwischen den Einzelnen unter ein-
ander war das römische Recht recipiert; für die Ordnung des Ver-
hältnisses zwischen dem Staat und den Unterthanen nicht also. Die
ihm eigentümliche Idee des allgewaltigen Staates ist verloren gegangen.
Die majestas populi Romani, in deren Namen der Wille der römischen
Magistrate dem Einzelnen stets als der höhere, rechtlich bindende gegen-
über trat, war noch in den Einrichtungen der römischen Kaiserzeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0044" n="24"/><fw place="top" type="header">Geschichtliche Entwicklungsstufen.</fw><lb/>
Art der gegenwärtigen zunächst durch die Verwirklichung eines<lb/>
anarchistischen Ideals abgelöst worden und darauf wieder eine Ord-<lb/>
nung im Sinne des Socialismus gefolgt.</p><lb/>
            <p>Die Übergänge vollziehen sich nicht allerorten in Deutschland<lb/>
gleichmä&#x017F;sig und in einem Zuge; bald schreitet die eine, bald die<lb/>
andere Staatengruppe voran und die übrigen bleiben daneben eine<lb/>
Zeit lang noch auf der vorausgehenden Entwicklungsstufe stehen.<lb/>
Im ganzen hat sich aber die ganze Entwicklung so rasch abgespielt,<lb/>
da&#x017F;s wir allgemeine Rechtszustände, die ganz auf den Grundlagen der<lb/>
ersten Stufe stehen, noch fast mit der Hand erreichen können. Lang-<lb/>
sam hatten sich die landesherrlichen Hoheitsrechte ausgebildet; einzelne<lb/>
deutsche Staatswesen beharrten in dieser Grundform bis zur Auf-<lb/>
lösung des alten Reichs zu Anfang dieses Jahrhunderts. Rasch und<lb/>
mit gewaltiger Spannkraft war daneben der absolutistische Polizei-<lb/>
staat emporgestiegen, um die alte Ordnung zu zerstören; im vorigen<lb/>
Jahrhundert hat er seinen Höhepunkt erreicht. Im Zusammenhang<lb/>
mit der Ausbildung des neuen Verfassungsrechts hat ihn erst im Ver-<lb/>
laufe dieses Jahrhunderts die Idee des Rechtsstaates überwunden.</p><lb/>
            <p>Diesem raschen Gange entspricht der Zustand, der uns vor<lb/>
Augen liegt.</p><lb/>
            <p>Das wirkliche Recht ist noch erfüllt mit Trümmern vorausgehender<lb/>
Entwicklungsstufen, die als Widerspruch mit den Grundgedanken<lb/>
des neuen Rechts dastehen und allmählich verschwinden oder sich<lb/>
umbilden müssen.</p><lb/>
            <p>Die Wissenschaft ihrerseits ist noch vielfach gebunden in<lb/>
älteren Anschauungen, die zum neuen Rechte nicht mehr passen, und<lb/>
hängt noch an Ausdrucksweisen, welche heute nur in gänzlich ver-<lb/>
ändertem Sinne zu gebrauchen sind.</p><lb/>
            <p>Wer sich hier zurechtfinden soll, für den ist die erste Be-<lb/>
dingung, da&#x017F;s er der geschichtlichen Gegensätze sich immer klar be-<lb/>
wu&#x017F;st bleibt.</p><lb/>
            <p>I. Was wir jetzt Verwaltung nennen, hat seinen Ausgang ge-<lb/>
nommen nicht vom deutschen Reich, sondern von den Territorien.<lb/>
Für die Ordnung des Verhältnisses zwischen den Einzelnen unter ein-<lb/>
ander war das römische Recht recipiert; für die Ordnung des Ver-<lb/>
hältnisses zwischen dem Staat und den Unterthanen nicht also. Die<lb/>
ihm eigentümliche Idee des allgewaltigen Staates ist verloren gegangen.<lb/>
Die majestas populi Romani, in deren Namen der Wille der römischen<lb/>
Magistrate dem Einzelnen stets als der höhere, rechtlich bindende gegen-<lb/>
über trat, war noch in den Einrichtungen der römischen Kaiserzeit<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0044] Geschichtliche Entwicklungsstufen. Art der gegenwärtigen zunächst durch die Verwirklichung eines anarchistischen Ideals abgelöst worden und darauf wieder eine Ord- nung im Sinne des Socialismus gefolgt. Die Übergänge vollziehen sich nicht allerorten in Deutschland gleichmäſsig und in einem Zuge; bald schreitet die eine, bald die andere Staatengruppe voran und die übrigen bleiben daneben eine Zeit lang noch auf der vorausgehenden Entwicklungsstufe stehen. Im ganzen hat sich aber die ganze Entwicklung so rasch abgespielt, daſs wir allgemeine Rechtszustände, die ganz auf den Grundlagen der ersten Stufe stehen, noch fast mit der Hand erreichen können. Lang- sam hatten sich die landesherrlichen Hoheitsrechte ausgebildet; einzelne deutsche Staatswesen beharrten in dieser Grundform bis zur Auf- lösung des alten Reichs zu Anfang dieses Jahrhunderts. Rasch und mit gewaltiger Spannkraft war daneben der absolutistische Polizei- staat emporgestiegen, um die alte Ordnung zu zerstören; im vorigen Jahrhundert hat er seinen Höhepunkt erreicht. Im Zusammenhang mit der Ausbildung des neuen Verfassungsrechts hat ihn erst im Ver- laufe dieses Jahrhunderts die Idee des Rechtsstaates überwunden. Diesem raschen Gange entspricht der Zustand, der uns vor Augen liegt. Das wirkliche Recht ist noch erfüllt mit Trümmern vorausgehender Entwicklungsstufen, die als Widerspruch mit den Grundgedanken des neuen Rechts dastehen und allmählich verschwinden oder sich umbilden müssen. Die Wissenschaft ihrerseits ist noch vielfach gebunden in älteren Anschauungen, die zum neuen Rechte nicht mehr passen, und hängt noch an Ausdrucksweisen, welche heute nur in gänzlich ver- ändertem Sinne zu gebrauchen sind. Wer sich hier zurechtfinden soll, für den ist die erste Be- dingung, daſs er der geschichtlichen Gegensätze sich immer klar be- wuſst bleibt. I. Was wir jetzt Verwaltung nennen, hat seinen Ausgang ge- nommen nicht vom deutschen Reich, sondern von den Territorien. Für die Ordnung des Verhältnisses zwischen den Einzelnen unter ein- ander war das römische Recht recipiert; für die Ordnung des Ver- hältnisses zwischen dem Staat und den Unterthanen nicht also. Die ihm eigentümliche Idee des allgewaltigen Staates ist verloren gegangen. Die majestas populi Romani, in deren Namen der Wille der römischen Magistrate dem Einzelnen stets als der höhere, rechtlich bindende gegen- über trat, war noch in den Einrichtungen der römischen Kaiserzeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/44
Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/44>, abgerufen am 22.12.2024.