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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 5. Der Rechtsstaat.

Der Schwerpunkt liegt für jetzt in der Frage: welches ist die
Natur der Rechtsordnung für die öffentliche Gewalt,

die der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Verwaltungsrechts ihre
Eigenart giebt? Dies bedarf einer eingehenden Erörterung. Der
juristische Gegensatz des Polizeistaates zur vorausgehenden Stufe er-
gab sich verhältnismässig einfach aus dem Zerfall der Formen, welche
jene geschaffen und festgehalten hatte. Hier aber werden neue
schöpferische Ideen wirksam, die man voll verstanden haben muss,
will man anders die Fülle der Einzelheiten beherrschen, die sich
daraus entfalten.

I. Der geistige Zusammenhang der europäischen Völkerfamilie
zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als in der gemeinsamen
Geschichte der Ideen des öffentlichen Rechts. Wir Deutsche spielen
dabei unverkennbar mehr die Stelle des Nachahmers, des Empfangenden,
namentlich Frankreich gegenüber; ob wir dafür immer viel Dank
schulden, ist eine Frage für sich.

Die französische Rechtsentwicklung, abgesehen davon dass sie
zeitlich immer etwas voraus ist und die Vergangenheit immer leichter
zu verstehen ist als die Gegenwart, ist für uns schon um deswillen
besonders lehrreich, weil dabei, der französischen Volksart entsprechend,
alle neuen öffentlichrechtlichen Ideen mit einer gewissen Schroffheit
zum Ausspruch und zur Durchführung gelangen. Wir finden sie dort,
um ein Bild zu gebrauchen, immer gleich in Reinkulturen.

Viel früher als bei uns war in Frankreich der Polizeistaat fertig
geworden. Ein Hemmschuh wie die Reichsgerichtsbarkeit fehlte. Das
Königtum mit seinen Ministern, Intendanten, Kommissären und
zahlreichen Exekutivbeamten schaltet und waltet ohne eigene Rechts-
schranken. Daneben stand in noch viel schrofferem Gegensatze wie
bei uns die Justiz. Die grossen Gerichtshöfe, Parlamente, unab-
hängig vom Königtum durch die uns heute so fremdartig anmutende
Käuflichkeit der Stellen, welche eine mächtige Klasse ständig mit
ihren Angehörigen besetzt, verwalten das Recht selbständig. Das
Recht, das sie handhaben, setzt sich zusammen aus dem allmählich
festgestellten und veröffentlichten Gewohnheitsrecht (coutumes) und
aus allgemeinen Anordnungen des Königs (etablissements, ordonnances).
Die letzteren aber werden vom Parlament nur dann anerkannt, wenn
es sie zuvor förmlich zugestellt erhalten und dann in seine Samm-
lung aufgenommen, einregistriert hat. Das geschieht nicht ohne
weiteres; es können Gegenvorstellungen gemacht werden (droit de
remontrance); manchmal ist die Einregistrierung nur mit grossen

§ 5. Der Rechtsstaat.

Der Schwerpunkt liegt für jetzt in der Frage: welches ist die
Natur der Rechtsordnung für die öffentliche Gewalt,

die der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Verwaltungsrechts ihre
Eigenart giebt? Dies bedarf einer eingehenden Erörterung. Der
juristische Gegensatz des Polizeistaates zur vorausgehenden Stufe er-
gab sich verhältnismäſsig einfach aus dem Zerfall der Formen, welche
jene geschaffen und festgehalten hatte. Hier aber werden neue
schöpferische Ideen wirksam, die man voll verstanden haben muſs,
will man anders die Fülle der Einzelheiten beherrschen, die sich
daraus entfalten.

I. Der geistige Zusammenhang der europäischen Völkerfamilie
zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als in der gemeinsamen
Geschichte der Ideen des öffentlichen Rechts. Wir Deutsche spielen
dabei unverkennbar mehr die Stelle des Nachahmers, des Empfangenden,
namentlich Frankreich gegenüber; ob wir dafür immer viel Dank
schulden, ist eine Frage für sich.

Die französische Rechtsentwicklung, abgesehen davon daſs sie
zeitlich immer etwas voraus ist und die Vergangenheit immer leichter
zu verstehen ist als die Gegenwart, ist für uns schon um deswillen
besonders lehrreich, weil dabei, der französischen Volksart entsprechend,
alle neuen öffentlichrechtlichen Ideen mit einer gewissen Schroffheit
zum Ausspruch und zur Durchführung gelangen. Wir finden sie dort,
um ein Bild zu gebrauchen, immer gleich in Reinkulturen.

Viel früher als bei uns war in Frankreich der Polizeistaat fertig
geworden. Ein Hemmschuh wie die Reichsgerichtsbarkeit fehlte. Das
Königtum mit seinen Ministern, Intendanten, Kommissären und
zahlreichen Exekutivbeamten schaltet und waltet ohne eigene Rechts-
schranken. Daneben stand in noch viel schrofferem Gegensatze wie
bei uns die Justiz. Die groſsen Gerichtshöfe, Parlamente, unab-
hängig vom Königtum durch die uns heute so fremdartig anmutende
Käuflichkeit der Stellen, welche eine mächtige Klasse ständig mit
ihren Angehörigen besetzt, verwalten das Recht selbständig. Das
Recht, das sie handhaben, setzt sich zusammen aus dem allmählich
festgestellten und veröffentlichten Gewohnheitsrecht (coutumes) und
aus allgemeinen Anordnungen des Königs (établissements, ordonnances).
Die letzteren aber werden vom Parlament nur dann anerkannt, wenn
es sie zuvor förmlich zugestellt erhalten und dann in seine Samm-
lung aufgenommen, einregistriert hat. Das geschieht nicht ohne
weiteres; es können Gegenvorstellungen gemacht werden (droit de
remontrance); manchmal ist die Einregistrierung nur mit groſsen

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[55/0075] § 5. Der Rechtsstaat. Der Schwerpunkt liegt für jetzt in der Frage: welches ist die Natur der Rechtsordnung für die öffentliche Gewalt, die der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Verwaltungsrechts ihre Eigenart giebt? Dies bedarf einer eingehenden Erörterung. Der juristische Gegensatz des Polizeistaates zur vorausgehenden Stufe er- gab sich verhältnismäſsig einfach aus dem Zerfall der Formen, welche jene geschaffen und festgehalten hatte. Hier aber werden neue schöpferische Ideen wirksam, die man voll verstanden haben muſs, will man anders die Fülle der Einzelheiten beherrschen, die sich daraus entfalten. I. Der geistige Zusammenhang der europäischen Völkerfamilie zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als in der gemeinsamen Geschichte der Ideen des öffentlichen Rechts. Wir Deutsche spielen dabei unverkennbar mehr die Stelle des Nachahmers, des Empfangenden, namentlich Frankreich gegenüber; ob wir dafür immer viel Dank schulden, ist eine Frage für sich. Die französische Rechtsentwicklung, abgesehen davon daſs sie zeitlich immer etwas voraus ist und die Vergangenheit immer leichter zu verstehen ist als die Gegenwart, ist für uns schon um deswillen besonders lehrreich, weil dabei, der französischen Volksart entsprechend, alle neuen öffentlichrechtlichen Ideen mit einer gewissen Schroffheit zum Ausspruch und zur Durchführung gelangen. Wir finden sie dort, um ein Bild zu gebrauchen, immer gleich in Reinkulturen. Viel früher als bei uns war in Frankreich der Polizeistaat fertig geworden. Ein Hemmschuh wie die Reichsgerichtsbarkeit fehlte. Das Königtum mit seinen Ministern, Intendanten, Kommissären und zahlreichen Exekutivbeamten schaltet und waltet ohne eigene Rechts- schranken. Daneben stand in noch viel schrofferem Gegensatze wie bei uns die Justiz. Die groſsen Gerichtshöfe, Parlamente, unab- hängig vom Königtum durch die uns heute so fremdartig anmutende Käuflichkeit der Stellen, welche eine mächtige Klasse ständig mit ihren Angehörigen besetzt, verwalten das Recht selbständig. Das Recht, das sie handhaben, setzt sich zusammen aus dem allmählich festgestellten und veröffentlichten Gewohnheitsrecht (coutumes) und aus allgemeinen Anordnungen des Königs (établissements, ordonnances). Die letzteren aber werden vom Parlament nur dann anerkannt, wenn es sie zuvor förmlich zugestellt erhalten und dann in seine Samm- lung aufgenommen, einregistriert hat. Das geschieht nicht ohne weiteres; es können Gegenvorstellungen gemacht werden (droit de remontrance); manchmal ist die Einregistrierung nur mit groſsen

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/75>, abgerufen am 22.12.2024.