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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 2. Leipzig, 1896.

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§ 48. Vorzugslasten und Verbandlasten.
lichkeiten auf, welche nur bei der Verbandlast vorkommen. Sie ist
nicht, wie namentlich bei den Steuern, eine der staatlichen Macht-
äußerung innewohnende Ordnung, aus welcher sich dann für die Ein-
zelnen ergiebt, was jeden trifft. Sondern der Ausgangspunkt ist der
umgekehrte: die Verteilungsordnung ist in erster Linie gedacht als
ein gegenseitiges Verpflichtungsverhältnis der Ver-
bundenen untereinander,
an welches die Forderung der öffent-
lichen Gewalt erst als das zweite sich anschließt.

Das wird nur erklärlich im Zusammenhange der ganzen geschicht-
lichen Entwicklung, deren Ergebnis unsere Verbandlast ist.

Die hervorragendsten Arten dieser Lasten und die zugleich das
Muster gegeben haben für das ganze Rechtsgebilde, reichen zurück
in ältere Zeiten, wo die Staatsgewalt noch weit entfernt davon war,
die alles bewegende Kraft des öffentlichen Lebens sein zu wollen.
Eine Reihe der wichtigsten Gemeininteressen finden ihre Befriedigung
dadurch, daß sich kleinere oder größere Gruppen zusammenthun, um
sie zu übernehmen: Deiche, Wege, Brücken, Bachreinigung werden so
besorgt, später in ähnlicher Weise Schulanstalten und Armenwesen.
Die Ordnung unter den Zusammenwirkenden ist eine gesellschaftliche,
ein Rechtsverhältnis zwischen ihnen. In mehr oder weniger ausge-
prägter Weise bildet sich darüber noch eine Vertretung der Gesamt-
heit mit Kräften zur Wahrung und Durchführung dieser Ordnung.
Der Reichtum genossenschaftlicher Formen entfaltet sich darin.

Der Polizeistaat kommt darüber und nimmt die Wahrung der
öffentlichen Interessen in seine Hand. Er duldet keine Selbständig-
keiten neben sich. Die genossenschaftlichen Gesamtheitsvertretungen
werden zerschlagen oder sinken herab zu geringen Beirats- und Mit-
wirkungsrechten. Die Gesellschaft selbst bleibt bestehen mit den
gegenseitigen Pflichten der Verbundenen. Der Staat nimmt aber diese
Pflichten zugleich als ihm geschuldet in Anspruch, um mit obrigkeit-
licher Gewalt ihre Aufrechterhaltung und Erfüllung zu erzwingen. So
wird die gesellschaftliche Pflicht zugleich zur öffentlichen Last; aber
nur zugleich und in zweiter Linie: die öffentliche Last ist angehängt
an die gesellschaftliche Pflicht der Verbundenen untereinander14.

14 Über den Entwicklungsgang: Gierke, Genossenschaftsrecht I S. 765 ff.
Er nennt diese Vereinigungen für Kirche, Schule, Armenpflege, Wegeunterhaltung
u. s. w. "gemeindeähnliche Verbände für besondere Zwecke". Sie sind nach ihm
ursprünglich Genossenschaften. Der "obrigkeitliche Staat", wie er den Polizei-
staat nennt, "strebt ihre Verwandlung entweder in bloße staatliche Bezirke, oder
in Staatsanstalten mit juristischer Persönlichkeit an." -- O.V.G. 7. Febr. 1883
(Samml. 9 S. 69) und 15. Mai 1885 (Samml. 12 S. 258) giebt die Grundzüge der

§ 48. Vorzugslasten und Verbandlasten.
lichkeiten auf, welche nur bei der Verbandlast vorkommen. Sie ist
nicht, wie namentlich bei den Steuern, eine der staatlichen Macht-
äußerung innewohnende Ordnung, aus welcher sich dann für die Ein-
zelnen ergiebt, was jeden trifft. Sondern der Ausgangspunkt ist der
umgekehrte: die Verteilungsordnung ist in erster Linie gedacht als
ein gegenseitiges Verpflichtungsverhältnis der Ver-
bundenen untereinander,
an welches die Forderung der öffent-
lichen Gewalt erst als das zweite sich anschließt.

Das wird nur erklärlich im Zusammenhange der ganzen geschicht-
lichen Entwicklung, deren Ergebnis unsere Verbandlast ist.

Die hervorragendsten Arten dieser Lasten und die zugleich das
Muster gegeben haben für das ganze Rechtsgebilde, reichen zurück
in ältere Zeiten, wo die Staatsgewalt noch weit entfernt davon war,
die alles bewegende Kraft des öffentlichen Lebens sein zu wollen.
Eine Reihe der wichtigsten Gemeininteressen finden ihre Befriedigung
dadurch, daß sich kleinere oder größere Gruppen zusammenthun, um
sie zu übernehmen: Deiche, Wege, Brücken, Bachreinigung werden so
besorgt, später in ähnlicher Weise Schulanstalten und Armenwesen.
Die Ordnung unter den Zusammenwirkenden ist eine gesellschaftliche,
ein Rechtsverhältnis zwischen ihnen. In mehr oder weniger ausge-
prägter Weise bildet sich darüber noch eine Vertretung der Gesamt-
heit mit Kräften zur Wahrung und Durchführung dieser Ordnung.
Der Reichtum genossenschaftlicher Formen entfaltet sich darin.

Der Polizeistaat kommt darüber und nimmt die Wahrung der
öffentlichen Interessen in seine Hand. Er duldet keine Selbständig-
keiten neben sich. Die genossenschaftlichen Gesamtheitsvertretungen
werden zerschlagen oder sinken herab zu geringen Beirats- und Mit-
wirkungsrechten. Die Gesellschaft selbst bleibt bestehen mit den
gegenseitigen Pflichten der Verbundenen. Der Staat nimmt aber diese
Pflichten zugleich als ihm geschuldet in Anspruch, um mit obrigkeit-
licher Gewalt ihre Aufrechterhaltung und Erfüllung zu erzwingen. So
wird die gesellschaftliche Pflicht zugleich zur öffentlichen Last; aber
nur zugleich und in zweiter Linie: die öffentliche Last ist angehängt
an die gesellschaftliche Pflicht der Verbundenen untereinander14.

14 Über den Entwicklungsgang: Gierke, Genossenschaftsrecht I S. 765 ff.
Er nennt diese Vereinigungen für Kirche, Schule, Armenpflege, Wegeunterhaltung
u. s. w. „gemeindeähnliche Verbände für besondere Zwecke“. Sie sind nach ihm
ursprünglich Genossenschaften. Der „obrigkeitliche Staat“, wie er den Polizei-
staat nennt, „strebt ihre Verwandlung entweder in bloße staatliche Bezirke, oder
in Staatsanstalten mit juristischer Persönlichkeit an.“ — O.V.G. 7. Febr. 1883
(Samml. 9 S. 69) und 15. Mai 1885 (Samml. 12 S. 258) giebt die Grundzüge der
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[287/0299] § 48. Vorzugslasten und Verbandlasten. lichkeiten auf, welche nur bei der Verbandlast vorkommen. Sie ist nicht, wie namentlich bei den Steuern, eine der staatlichen Macht- äußerung innewohnende Ordnung, aus welcher sich dann für die Ein- zelnen ergiebt, was jeden trifft. Sondern der Ausgangspunkt ist der umgekehrte: die Verteilungsordnung ist in erster Linie gedacht als ein gegenseitiges Verpflichtungsverhältnis der Ver- bundenen untereinander, an welches die Forderung der öffent- lichen Gewalt erst als das zweite sich anschließt. Das wird nur erklärlich im Zusammenhange der ganzen geschicht- lichen Entwicklung, deren Ergebnis unsere Verbandlast ist. Die hervorragendsten Arten dieser Lasten und die zugleich das Muster gegeben haben für das ganze Rechtsgebilde, reichen zurück in ältere Zeiten, wo die Staatsgewalt noch weit entfernt davon war, die alles bewegende Kraft des öffentlichen Lebens sein zu wollen. Eine Reihe der wichtigsten Gemeininteressen finden ihre Befriedigung dadurch, daß sich kleinere oder größere Gruppen zusammenthun, um sie zu übernehmen: Deiche, Wege, Brücken, Bachreinigung werden so besorgt, später in ähnlicher Weise Schulanstalten und Armenwesen. Die Ordnung unter den Zusammenwirkenden ist eine gesellschaftliche, ein Rechtsverhältnis zwischen ihnen. In mehr oder weniger ausge- prägter Weise bildet sich darüber noch eine Vertretung der Gesamt- heit mit Kräften zur Wahrung und Durchführung dieser Ordnung. Der Reichtum genossenschaftlicher Formen entfaltet sich darin. Der Polizeistaat kommt darüber und nimmt die Wahrung der öffentlichen Interessen in seine Hand. Er duldet keine Selbständig- keiten neben sich. Die genossenschaftlichen Gesamtheitsvertretungen werden zerschlagen oder sinken herab zu geringen Beirats- und Mit- wirkungsrechten. Die Gesellschaft selbst bleibt bestehen mit den gegenseitigen Pflichten der Verbundenen. Der Staat nimmt aber diese Pflichten zugleich als ihm geschuldet in Anspruch, um mit obrigkeit- licher Gewalt ihre Aufrechterhaltung und Erfüllung zu erzwingen. So wird die gesellschaftliche Pflicht zugleich zur öffentlichen Last; aber nur zugleich und in zweiter Linie: die öffentliche Last ist angehängt an die gesellschaftliche Pflicht der Verbundenen untereinander 14. 14 Über den Entwicklungsgang: Gierke, Genossenschaftsrecht I S. 765 ff. Er nennt diese Vereinigungen für Kirche, Schule, Armenpflege, Wegeunterhaltung u. s. w. „gemeindeähnliche Verbände für besondere Zwecke“. Sie sind nach ihm ursprünglich Genossenschaften. Der „obrigkeitliche Staat“, wie er den Polizei- staat nennt, „strebt ihre Verwandlung entweder in bloße staatliche Bezirke, oder in Staatsanstalten mit juristischer Persönlichkeit an.“ — O.V.G. 7. Febr. 1883 (Samml. 9 S. 69) und 15. Mai 1885 (Samml. 12 S. 258) giebt die Grundzüge der

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 2. Leipzig, 1896, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht02_1896/299>, abgerufen am 17.06.2024.