Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

durch den Kopf, denn Wendelin war ihm durch seinen Enthusiasmus wieder werther als je geworden, und er fühlte aufs Neue wieder, wie innig er ihn liebe. Wendelin war des Müllers Sohn und ahnte es nicht. Er glaubte, er sei nur ein zufällig angenommenes Kind. Der Reinbacher hatte seine Mutter geliebt. Wie oft, trotz ähnlich stürmischer Nacht, war der Reinbacher, damals um neunzehn Jahre jünger, hinausgezogen bis zur Wohnung des alten Thurmwächters, wo die Christel wohnte, die schöne, blauäugige, blasse Christel .... Ach, auch der Reinbacher hatte seine Schuld hinter sich, eine schwere Schuld. Die Drohungen seines strengen und stolzen Vaters schüchterten ihn allzu sehr ein, und endlich, da die arme Christel nach der Geburt ihres Kindes im Fieber lag -- war Alles zu spät. Die Mutter starb, das Kind war gerettet, der alte Thurmwächter erfuhr nie den Namen des Verführers.

Es war eine alte, oft dagewesene, aber ewig schmerzliche Geschichte.

V.

Der Müller lag im ersten Schlafe, als ihn eine fremde Hand wachrüttelte. Er fuhr auf -- Wendelin stand vor seinem Bette, halb in der Dämmerung, nur von einem Lämpchen beleuchtet, das er zwischen der Thür auf die Erde gestellt hatte. Er bewegte die Lip-

durch den Kopf, denn Wendelin war ihm durch seinen Enthusiasmus wieder werther als je geworden, und er fühlte aufs Neue wieder, wie innig er ihn liebe. Wendelin war des Müllers Sohn und ahnte es nicht. Er glaubte, er sei nur ein zufällig angenommenes Kind. Der Reinbacher hatte seine Mutter geliebt. Wie oft, trotz ähnlich stürmischer Nacht, war der Reinbacher, damals um neunzehn Jahre jünger, hinausgezogen bis zur Wohnung des alten Thurmwächters, wo die Christel wohnte, die schöne, blauäugige, blasse Christel .... Ach, auch der Reinbacher hatte seine Schuld hinter sich, eine schwere Schuld. Die Drohungen seines strengen und stolzen Vaters schüchterten ihn allzu sehr ein, und endlich, da die arme Christel nach der Geburt ihres Kindes im Fieber lag — war Alles zu spät. Die Mutter starb, das Kind war gerettet, der alte Thurmwächter erfuhr nie den Namen des Verführers.

Es war eine alte, oft dagewesene, aber ewig schmerzliche Geschichte.

V.

Der Müller lag im ersten Schlafe, als ihn eine fremde Hand wachrüttelte. Er fuhr auf — Wendelin stand vor seinem Bette, halb in der Dämmerung, nur von einem Lämpchen beleuchtet, das er zwischen der Thür auf die Erde gestellt hatte. Er bewegte die Lip-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="4">
        <p><pb facs="#f0037"/>
durch den Kopf, denn Wendelin war ihm durch seinen Enthusiasmus wieder                werther als je geworden, und er fühlte aufs Neue wieder, wie innig er ihn liebe.                Wendelin war des Müllers Sohn und ahnte es nicht. Er glaubte, er sei nur ein zufällig                angenommenes Kind. Der Reinbacher hatte seine Mutter geliebt. Wie oft, trotz ähnlich                stürmischer Nacht, war der Reinbacher, damals um neunzehn Jahre jünger, hinausgezogen                bis zur Wohnung des alten Thurmwächters, wo die Christel wohnte, die schöne,                blauäugige, blasse Christel .... Ach, auch der Reinbacher hatte seine Schuld hinter                sich, eine schwere Schuld. Die Drohungen seines strengen und stolzen Vaters                schüchterten ihn allzu sehr ein, und endlich, da die arme Christel nach der Geburt                ihres Kindes im Fieber lag &#x2014; war Alles zu spät. Die Mutter starb, das Kind war                gerettet, der alte Thurmwächter erfuhr nie den Namen des Verführers.</p><lb/>
        <p>Es war eine alte, oft dagewesene, aber ewig schmerzliche Geschichte.</p><lb/>
      </div>
      <div type="chapter" n="5">
        <head>V.</head>
        <p>Der Müller lag im ersten Schlafe, als ihn eine fremde Hand wachrüttelte. Er fuhr auf                &#x2014; Wendelin stand vor seinem Bette, halb in der Dämmerung, nur von einem Lämpchen                beleuchtet, das er zwischen der Thür auf die Erde gestellt hatte. Er bewegte die                Lip-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0037] durch den Kopf, denn Wendelin war ihm durch seinen Enthusiasmus wieder werther als je geworden, und er fühlte aufs Neue wieder, wie innig er ihn liebe. Wendelin war des Müllers Sohn und ahnte es nicht. Er glaubte, er sei nur ein zufällig angenommenes Kind. Der Reinbacher hatte seine Mutter geliebt. Wie oft, trotz ähnlich stürmischer Nacht, war der Reinbacher, damals um neunzehn Jahre jünger, hinausgezogen bis zur Wohnung des alten Thurmwächters, wo die Christel wohnte, die schöne, blauäugige, blasse Christel .... Ach, auch der Reinbacher hatte seine Schuld hinter sich, eine schwere Schuld. Die Drohungen seines strengen und stolzen Vaters schüchterten ihn allzu sehr ein, und endlich, da die arme Christel nach der Geburt ihres Kindes im Fieber lag — war Alles zu spät. Die Mutter starb, das Kind war gerettet, der alte Thurmwächter erfuhr nie den Namen des Verführers. Es war eine alte, oft dagewesene, aber ewig schmerzliche Geschichte. V. Der Müller lag im ersten Schlafe, als ihn eine fremde Hand wachrüttelte. Er fuhr auf — Wendelin stand vor seinem Bette, halb in der Dämmerung, nur von einem Lämpchen beleuchtet, das er zwischen der Thür auf die Erde gestellt hatte. Er bewegte die Lip-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:41:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:41:19Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910/37
Zitationshilfe: Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–274. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_hoeft_1910/37>, abgerufen am 21.11.2024.