len: denn er handelt offenbar wider seinen eige- nen Endzweck, wenn er geradezu Untersuchung verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch Vernunftgründe entscheiden läßt. Auch hat er sich nicht um alle Grundsätze zu bekümmern, die eine herrschende oder beherrschte Dogmatik annimmt oder verwirft. Die Rede ist nur von jenen Hauptgrundsätzen, in welchen alle Reli- gionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist. Ohne Gott und Vorse- hung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerey, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Thor sich placke, und der Kluge sich gütlich thun und auf jenes Unkosten sich lustig machen könne.
Kaum wird es nöthig seyn, noch die Frage zu berühren: ob es erlaubt sey, die Lehrer und Priester auf gewisse Glaubenslehren zu beeidi- gen? Auf welche sollte dieses geschehen? Jene Grundartikel aller Religionen, davon vorhin gesprochen worden, können durch keine Eid- schwüre bekräftiget worden. Ihr müsset dem Schwörenden auf sein Wort glauben, daß er sie
annimmt;
len: denn er handelt offenbar wider ſeinen eige- nen Endzweck, wenn er geradezu Unterſuchung verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch Vernunftgruͤnde entſcheiden laͤßt. Auch hat er ſich nicht um alle Grundſaͤtze zu bekuͤmmern, die eine herrſchende oder beherrſchte Dogmatik annimmt oder verwirft. Die Rede iſt nur von jenen Hauptgrundſaͤtzen, in welchen alle Reli- gionen uͤbereinkommen, und ohne welche die Gluͤckſeligkeit ein Traum, und die Tugend ſelbſt keine Tugend mehr iſt. Ohne Gott und Vorſe- hung und kuͤnftiges Leben iſt Menſchenliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerey, die wir uns einander einzuſchwatzen ſuchen, damit der Thor ſich placke, und der Kluge ſich guͤtlich thun und auf jenes Unkoſten ſich luſtig machen koͤnne.
Kaum wird es noͤthig ſeyn, noch die Frage zu beruͤhren: ob es erlaubt ſey, die Lehrer und Prieſter auf gewiſſe Glaubenslehren zu beeidi- gen? Auf welche ſollte dieſes geſchehen? Jene Grundartikel aller Religionen, davon vorhin geſprochen worden, koͤnnen durch keine Eid- ſchwuͤre bekraͤftiget worden. Ihr muͤſſet dem Schwoͤrenden auf ſein Wort glauben, daß er ſie
annimmt;
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0076"n="70"/>
len: denn er handelt offenbar wider ſeinen eige-<lb/>
nen Endzweck, wenn er geradezu Unterſuchung<lb/>
verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch<lb/>
Vernunftgruͤnde entſcheiden laͤßt. Auch hat er<lb/>ſich nicht um alle Grundſaͤtze zu bekuͤmmern,<lb/>
die eine herrſchende oder beherrſchte Dogmatik<lb/>
annimmt oder verwirft. Die Rede iſt nur von<lb/>
jenen Hauptgrundſaͤtzen, in welchen alle Reli-<lb/>
gionen uͤbereinkommen, und ohne welche die<lb/>
Gluͤckſeligkeit ein Traum, und die Tugend ſelbſt<lb/>
keine Tugend mehr iſt. Ohne Gott und Vorſe-<lb/>
hung und kuͤnftiges Leben iſt Menſchenliebe eine<lb/>
angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig<lb/>
mehr als eine Geckerey, die wir uns einander<lb/>
einzuſchwatzen ſuchen, damit der Thor ſich placke,<lb/>
und der Kluge ſich guͤtlich thun und auf jenes<lb/>
Unkoſten ſich luſtig machen koͤnne.</p><lb/><p>Kaum wird es noͤthig ſeyn, noch die Frage<lb/>
zu beruͤhren: ob es erlaubt ſey, die Lehrer und<lb/>
Prieſter auf gewiſſe Glaubenslehren zu <hirendition="#fr">beeidi-<lb/>
gen</hi>? Auf welche ſollte dieſes geſchehen? Jene<lb/>
Grundartikel aller Religionen, davon vorhin<lb/>
geſprochen worden, koͤnnen durch keine Eid-<lb/>ſchwuͤre bekraͤftiget worden. Ihr muͤſſet dem<lb/>
Schwoͤrenden auf ſein Wort glauben, daß er ſie<lb/><fwplace="bottom"type="catch">annimmt;</fw><lb/></p></body></text></TEI>
[70/0076]
len: denn er handelt offenbar wider ſeinen eige-
nen Endzweck, wenn er geradezu Unterſuchung
verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch
Vernunftgruͤnde entſcheiden laͤßt. Auch hat er
ſich nicht um alle Grundſaͤtze zu bekuͤmmern,
die eine herrſchende oder beherrſchte Dogmatik
annimmt oder verwirft. Die Rede iſt nur von
jenen Hauptgrundſaͤtzen, in welchen alle Reli-
gionen uͤbereinkommen, und ohne welche die
Gluͤckſeligkeit ein Traum, und die Tugend ſelbſt
keine Tugend mehr iſt. Ohne Gott und Vorſe-
hung und kuͤnftiges Leben iſt Menſchenliebe eine
angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig
mehr als eine Geckerey, die wir uns einander
einzuſchwatzen ſuchen, damit der Thor ſich placke,
und der Kluge ſich guͤtlich thun und auf jenes
Unkoſten ſich luſtig machen koͤnne.
Kaum wird es noͤthig ſeyn, noch die Frage
zu beruͤhren: ob es erlaubt ſey, die Lehrer und
Prieſter auf gewiſſe Glaubenslehren zu beeidi-
gen? Auf welche ſollte dieſes geſchehen? Jene
Grundartikel aller Religionen, davon vorhin
geſprochen worden, koͤnnen durch keine Eid-
ſchwuͤre bekraͤftiget worden. Ihr muͤſſet dem
Schwoͤrenden auf ſein Wort glauben, daß er ſie
annimmt;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/76>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.