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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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gemacht, und hat der Zustand der Protestanten seit¬
her auch zuweilen einem frechen Libertinismus und
einer gehässigen Sectirerei Raum gegeben, so hat die
Freiheit, die er edlern Geistern vergönnt hat, doch
auch die schönsten Früchte getragen.

Betrachten wir zuerst die Kritiker oder die Hel¬
den des Verstandes, unter denen ich nur den großen
Namen Lessing nennen will, um sie charakteristisch
genug zu bezeichnen. Sie sind die Engel, die mit
dem scharfen blitzenden Flammenschwert der Denkkraft
in das Paradies der Kirche gesendet sind, um die
unwürdigen Bewohner auszutreiben. Einer Masse ge¬
genüber, die in roher Sinnlichkeit, in dumpfem Ge¬
fühl oder in blindem Autoritätsglauben entartet ist,
einer Geschichte gegenüber, die auf jedem aufgeschla¬
genen Blatte nur beweist, wie weit wir noch zurück
sind, welchen unendlichen Weg der Geist noch vor¬
aussieht, haben diese Männer eine Arbeit übernom¬
men, die des menschlichen Geistes eben so auf die
höchste Weise würdig ist, als er die schwerste Auf¬
gabe für denselben seyn muß. Die Sinnlichkeit und
der ganze historische Einfluß, das Gemüth und alle
angeborne Schwächen der Menschen sind die Mächte,
gegen deren Entartung und Verderbniß sie ankäm¬
pfen und der Verstand, das kleine Richtmaaß, ist
das einzige Werkzeug, mit dem sie die Höhen und
Tiefen des alten Felsen bewältigen wollen. Wenn
die Art, wie die Denkkraft angewendet wird, auch
selbst der Verderbniß unterworfen ist, so ist schon die

gemacht, und hat der Zuſtand der Proteſtanten ſeit¬
her auch zuweilen einem frechen Libertinismus und
einer gehaͤſſigen Sectirerei Raum gegeben, ſo hat die
Freiheit, die er edlern Geiſtern vergoͤnnt hat, doch
auch die ſchoͤnſten Fruͤchte getragen.

Betrachten wir zuerſt die Kritiker oder die Hel¬
den des Verſtandes, unter denen ich nur den großen
Namen Leſſing nennen will, um ſie charakteriſtiſch
genug zu bezeichnen. Sie ſind die Engel, die mit
dem ſcharfen blitzenden Flammenſchwert der Denkkraft
in das Paradies der Kirche geſendet ſind, um die
unwuͤrdigen Bewohner auszutreiben. Einer Maſſe ge¬
genuͤber, die in roher Sinnlichkeit, in dumpfem Ge¬
fuͤhl oder in blindem Autoritaͤtsglauben entartet iſt,
einer Geſchichte gegenuͤber, die auf jedem aufgeſchla¬
genen Blatte nur beweist, wie weit wir noch zuruͤck
ſind, welchen unendlichen Weg der Geiſt noch vor¬
ausſieht, haben dieſe Maͤnner eine Arbeit uͤbernom¬
men, die des menſchlichen Geiſtes eben ſo auf die
hoͤchſte Weiſe wuͤrdig iſt, als er die ſchwerſte Auf¬
gabe fuͤr denſelben ſeyn muß. Die Sinnlichkeit und
der ganze hiſtoriſche Einfluß, das Gemuͤth und alle
angeborne Schwaͤchen der Menſchen ſind die Maͤchte,
gegen deren Entartung und Verderbniß ſie ankaͤm¬
pfen und der Verſtand, das kleine Richtmaaß, iſt
das einzige Werkzeug, mit dem ſie die Hoͤhen und
Tiefen des alten Felſen bewaͤltigen wollen. Wenn
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[125/0135] gemacht, und hat der Zuſtand der Proteſtanten ſeit¬ her auch zuweilen einem frechen Libertinismus und einer gehaͤſſigen Sectirerei Raum gegeben, ſo hat die Freiheit, die er edlern Geiſtern vergoͤnnt hat, doch auch die ſchoͤnſten Fruͤchte getragen. Betrachten wir zuerſt die Kritiker oder die Hel¬ den des Verſtandes, unter denen ich nur den großen Namen Leſſing nennen will, um ſie charakteriſtiſch genug zu bezeichnen. Sie ſind die Engel, die mit dem ſcharfen blitzenden Flammenſchwert der Denkkraft in das Paradies der Kirche geſendet ſind, um die unwuͤrdigen Bewohner auszutreiben. Einer Maſſe ge¬ genuͤber, die in roher Sinnlichkeit, in dumpfem Ge¬ fuͤhl oder in blindem Autoritaͤtsglauben entartet iſt, einer Geſchichte gegenuͤber, die auf jedem aufgeſchla¬ genen Blatte nur beweist, wie weit wir noch zuruͤck ſind, welchen unendlichen Weg der Geiſt noch vor¬ ausſieht, haben dieſe Maͤnner eine Arbeit uͤbernom¬ men, die des menſchlichen Geiſtes eben ſo auf die hoͤchſte Weiſe wuͤrdig iſt, als er die ſchwerſte Auf¬ gabe fuͤr denſelben ſeyn muß. Die Sinnlichkeit und der ganze hiſtoriſche Einfluß, das Gemuͤth und alle angeborne Schwaͤchen der Menſchen ſind die Maͤchte, gegen deren Entartung und Verderbniß ſie ankaͤm¬ pfen und der Verſtand, das kleine Richtmaaß, iſt das einzige Werkzeug, mit dem ſie die Hoͤhen und Tiefen des alten Felſen bewaͤltigen wollen. Wenn die Art, wie die Denkkraft angewendet wird, auch ſelbſt der Verderbniß unterworfen iſt, ſo iſt ſchon die

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/135>, abgerufen am 25.11.2024.