Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

neue Schwierigkeit entgegen. Unsre Geschichte ist theils
so unendlich mannigfaltig, theils hat sie so viele
dunkle Partien, daß ein klarer Überblick noch nie¬
mals erreicht worden ist. Weit leichter mag der Eng¬
länder und Franzose seine Geschichte schildern, die
an sehr einfachen Fäden fortläuft, und nie wichtig
ist, wo sie nicht zugleich klar wäre. Dort drängt
sich alles zusammen, in der deutschen Geschichte fährt
alles auseinander. Wir sind darin den Griechen zu
vergleichen, und noch gibt es eben so wenig eine
gute griechische Geschichte, als es eine deutsche gibt.

Noch in keinem Zweige der Literatur haben wir
so wenig uns selbst vertraut, als in der Geschicht¬
schreibung. Hier galten uns fast immer nur fremde
Muster, vorzüglich der Alten. Der wichtigste und
anerkannteste unter den Nachahmern der Alten, der
daher auch fast einstimmig für unsern größten Ge¬
schichtschreiber gehalten worden ist, war Johannes
Müller. Seine Schule ist noch immer die herrschende,
und der manierirte geschraubte Ton derselben ist ein
wenig lächerlich. Die Deutschen sind seit ein Paar
Jahrhunderten von der europäischen Geschichte als
ihr Spielball umhergeworfen worden; wenn sie selbst
wieder einmal die Geschichte machen werden, werden
sie sie auch schreiben können.


neue Schwierigkeit entgegen. Unſre Geſchichte iſt theils
ſo unendlich mannigfaltig, theils hat ſie ſo viele
dunkle Partien, daß ein klarer Überblick noch nie¬
mals erreicht worden iſt. Weit leichter mag der Eng¬
laͤnder und Franzoſe ſeine Geſchichte ſchildern, die
an ſehr einfachen Faͤden fortlaͤuft, und nie wichtig
iſt, wo ſie nicht zugleich klar waͤre. Dort draͤngt
ſich alles zuſammen, in der deutſchen Geſchichte faͤhrt
alles auseinander. Wir ſind darin den Griechen zu
vergleichen, und noch gibt es eben ſo wenig eine
gute griechiſche Geſchichte, als es eine deutſche gibt.

Noch in keinem Zweige der Literatur haben wir
ſo wenig uns ſelbſt vertraut, als in der Geſchicht¬
ſchreibung. Hier galten uns faſt immer nur fremde
Muſter, vorzuͤglich der Alten. Der wichtigſte und
anerkannteſte unter den Nachahmern der Alten, der
daher auch faſt einſtimmig fuͤr unſern groͤßten Ge¬
ſchichtſchreiber gehalten worden iſt, war Johannes
Muͤller. Seine Schule iſt noch immer die herrſchende,
und der manierirte geſchraubte Ton derſelben iſt ein
wenig laͤcherlich. Die Deutſchen ſind ſeit ein Paar
Jahrhunderten von der europaͤiſchen Geſchichte als
ihr Spielball umhergeworfen worden; wenn ſie ſelbſt
wieder einmal die Geſchichte machen werden, werden
ſie ſie auch ſchreiben koͤnnen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0223" n="213"/>
neue Schwierigkeit entgegen. Un&#x017F;re Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t theils<lb/>
&#x017F;o unendlich mannigfaltig, theils hat &#x017F;ie &#x017F;o viele<lb/>
dunkle Partien, daß ein klarer Überblick noch nie¬<lb/>
mals erreicht worden i&#x017F;t. Weit leichter mag der Eng¬<lb/>
la&#x0364;nder und Franzo&#x017F;e &#x017F;eine Ge&#x017F;chichte &#x017F;childern, die<lb/>
an &#x017F;ehr einfachen Fa&#x0364;den fortla&#x0364;uft, und nie wichtig<lb/>
i&#x017F;t, wo &#x017F;ie nicht zugleich klar wa&#x0364;re. Dort dra&#x0364;ngt<lb/>
&#x017F;ich alles zu&#x017F;ammen, in der deut&#x017F;chen Ge&#x017F;chichte fa&#x0364;hrt<lb/>
alles auseinander. Wir &#x017F;ind darin den Griechen zu<lb/>
vergleichen, und noch gibt es eben &#x017F;o wenig eine<lb/>
gute griechi&#x017F;che Ge&#x017F;chichte, als es eine deut&#x017F;che gibt.</p><lb/>
        <p>Noch in keinem Zweige der Literatur haben wir<lb/>
&#x017F;o wenig uns &#x017F;elb&#x017F;t vertraut, als in der Ge&#x017F;chicht¬<lb/>
&#x017F;chreibung. Hier galten uns fa&#x017F;t immer nur fremde<lb/>
Mu&#x017F;ter, vorzu&#x0364;glich der Alten. Der wichtig&#x017F;te und<lb/>
anerkannte&#x017F;te unter den Nachahmern der Alten, der<lb/>
daher auch fa&#x017F;t ein&#x017F;timmig fu&#x0364;r un&#x017F;ern gro&#x0364;ßten Ge¬<lb/>
&#x017F;chicht&#x017F;chreiber gehalten worden i&#x017F;t, war Johannes<lb/>
Mu&#x0364;ller. Seine Schule i&#x017F;t noch immer die herr&#x017F;chende,<lb/>
und der manierirte ge&#x017F;chraubte Ton der&#x017F;elben i&#x017F;t ein<lb/>
wenig la&#x0364;cherlich. Die Deut&#x017F;chen &#x017F;ind &#x017F;eit ein Paar<lb/>
Jahrhunderten von der europa&#x0364;i&#x017F;chen Ge&#x017F;chichte als<lb/>
ihr Spielball umhergeworfen worden; wenn &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
wieder einmal die Ge&#x017F;chichte machen werden, werden<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ie auch &#x017F;chreiben ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0223] neue Schwierigkeit entgegen. Unſre Geſchichte iſt theils ſo unendlich mannigfaltig, theils hat ſie ſo viele dunkle Partien, daß ein klarer Überblick noch nie¬ mals erreicht worden iſt. Weit leichter mag der Eng¬ laͤnder und Franzoſe ſeine Geſchichte ſchildern, die an ſehr einfachen Faͤden fortlaͤuft, und nie wichtig iſt, wo ſie nicht zugleich klar waͤre. Dort draͤngt ſich alles zuſammen, in der deutſchen Geſchichte faͤhrt alles auseinander. Wir ſind darin den Griechen zu vergleichen, und noch gibt es eben ſo wenig eine gute griechiſche Geſchichte, als es eine deutſche gibt. Noch in keinem Zweige der Literatur haben wir ſo wenig uns ſelbſt vertraut, als in der Geſchicht¬ ſchreibung. Hier galten uns faſt immer nur fremde Muſter, vorzuͤglich der Alten. Der wichtigſte und anerkannteſte unter den Nachahmern der Alten, der daher auch faſt einſtimmig fuͤr unſern groͤßten Ge¬ ſchichtſchreiber gehalten worden iſt, war Johannes Muͤller. Seine Schule iſt noch immer die herrſchende, und der manierirte geſchraubte Ton derſelben iſt ein wenig laͤcherlich. Die Deutſchen ſind ſeit ein Paar Jahrhunderten von der europaͤiſchen Geſchichte als ihr Spielball umhergeworfen worden; wenn ſie ſelbſt wieder einmal die Geſchichte machen werden, werden ſie ſie auch ſchreiben koͤnnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/223
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/223>, abgerufen am 21.11.2024.