Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.den in den Wissenschaften und Künsten eine angemes¬ Der Deutsche liebt die Familie mehr als den Deutsche Literatur. I. 10
den in den Wiſſenſchaften und Kuͤnſten eine angemeſ¬ Der Deutſche liebt die Familie mehr als den Deutſche Literatur. I. 10
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0227" n="217"/> den in den Wiſſenſchaften und Kuͤnſten eine angemeſ¬<lb/> ſene Wirkſamkeit. Die Erſcheinung der franzoͤſiſchen<lb/> Revolution, und die Art, wie man ſie in Deutſch¬<lb/> land aufnahm, hat hinlaͤnglich bewieſen, wie wenig<lb/> man in Deutſchland fuͤr ein reges politiſches Leben<lb/> geſtimmt und vorbereitet war.</p><lb/> <p>Der Deutſche liebt die <hi rendition="#g">Familie</hi> mehr als den<lb/> Staat, den kleinen Kreis von Freunden mehr als<lb/> die große Geſellſchaft, die Ruhe mehr als den Laͤrm,<lb/> die Betrachtung mehr als das Raiſonniren. Es muß<lb/> zugeſtanden werden, daß dieſe Eigenheiten zu eben<lb/> ſo viel Laſtern als Ungluͤcksfaͤllen gefuͤhrt haben, daß<lb/> nur durch ſie verſchuldet worden iſt, was man uns<lb/> mit Recht ſo oft und lange vorgeworfen, Bethoͤrung<lb/> und Unterdruͤckung durch Fremde, Unempfindlichkeit<lb/> fuͤr nationelle Schande, Vernachlaͤſſigung gemeinſa¬<lb/> mer Intereſſen, enge peinliche Spießbuͤrgerlichkeit und<lb/> Verſauern in der traͤgen Ruhe. Auf der andern Seite<lb/> beweist uns aber die fruͤhere Geſchichte, daß dieſel¬<lb/> ben Grundzuͤge des Nationalcharakters ſich auch mit<lb/> großen politiſchen Thaten und Inſtituten haben ver¬<lb/> einigen laſſen. Aus ihrer Wurzel iſt der Rieſenbaum<lb/> der altgermaniſchen Verfaſſung erwachſen, der Jahr¬<lb/> hunderte lang Europa wohlthaͤtigen Schatten gegeben.<lb/> Von allen Verfaſſungen des Alterthums unterſchied<lb/> ſich die germaniſche dadurch, daß ſie das Gemein¬<lb/> weſen der individuellen Freiheit und dem Familien¬<lb/> weſen unterordnete. Der Staat ſollte dem Einzelnen<lb/> dienen, waͤhrend in Rom und Sparta der Einzelne<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Deutſche Literatur. <hi rendition="#aq">I</hi>. 10<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [217/0227]
den in den Wiſſenſchaften und Kuͤnſten eine angemeſ¬
ſene Wirkſamkeit. Die Erſcheinung der franzoͤſiſchen
Revolution, und die Art, wie man ſie in Deutſch¬
land aufnahm, hat hinlaͤnglich bewieſen, wie wenig
man in Deutſchland fuͤr ein reges politiſches Leben
geſtimmt und vorbereitet war.
Der Deutſche liebt die Familie mehr als den
Staat, den kleinen Kreis von Freunden mehr als
die große Geſellſchaft, die Ruhe mehr als den Laͤrm,
die Betrachtung mehr als das Raiſonniren. Es muß
zugeſtanden werden, daß dieſe Eigenheiten zu eben
ſo viel Laſtern als Ungluͤcksfaͤllen gefuͤhrt haben, daß
nur durch ſie verſchuldet worden iſt, was man uns
mit Recht ſo oft und lange vorgeworfen, Bethoͤrung
und Unterdruͤckung durch Fremde, Unempfindlichkeit
fuͤr nationelle Schande, Vernachlaͤſſigung gemeinſa¬
mer Intereſſen, enge peinliche Spießbuͤrgerlichkeit und
Verſauern in der traͤgen Ruhe. Auf der andern Seite
beweist uns aber die fruͤhere Geſchichte, daß dieſel¬
ben Grundzuͤge des Nationalcharakters ſich auch mit
großen politiſchen Thaten und Inſtituten haben ver¬
einigen laſſen. Aus ihrer Wurzel iſt der Rieſenbaum
der altgermaniſchen Verfaſſung erwachſen, der Jahr¬
hunderte lang Europa wohlthaͤtigen Schatten gegeben.
Von allen Verfaſſungen des Alterthums unterſchied
ſich die germaniſche dadurch, daß ſie das Gemein¬
weſen der individuellen Freiheit und dem Familien¬
weſen unterordnete. Der Staat ſollte dem Einzelnen
dienen, waͤhrend in Rom und Sparta der Einzelne
Deutſche Literatur. I. 10
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