Zu allen Zeiten offenbarten sie eine überschwengliche Kraft und Fülle des Geistes, die aus dem Innern hervorbrach und auf die Äußerlichkeiten wenig ach¬ tete. Zu allen Zeiten waren die Deutschen im prak¬ tischen Leben unbehülflicher als andre Nationen, aber einheimischer in der innern Welt, und alle ihre na¬ tionellen Tugenden und Laster können auf diese Inner¬ keit, Sinnigkeit, Beschaulichkeit zurückgeführt werden. Sie ist es, die uns jetzt vorzugsweise zu einem lite¬ rarischen Volk macht, und zugleich unsrer Literatur ein eigenthümliches Gepräge aufdrückt. Die Schrif¬ ten andrer Nationen sind praktischer, weil ihr Leben praktischer ist, die unsrigen haben einen Anstrich von Übernatürlichkeit oder Unnatürlichkeit, etwas Geister¬ mäßiges, Fremdes, das nicht recht in die Welt pas¬ sen will, weil wir immer nur die wunderliche Welt unsres Innern im Auge haben. Wir sind phantasti¬ scher, als andre Völker, nicht nur weil unsre Phan¬ tasie ins Ungeheure von der Wirklichkeit ausschweift, sondern auch weil wir unsre Träume für wahr halten. Wie die Einbildungskraft schweift unser Gefühl aus von der albernen Familiensentimentalität bis zur Überschwenglichkeit pietistischer Sekten. Am weitesten aber schweift der Verstand hinaus ins Blaue und wir sind als Speculanten und Systemmacher überall verschrien. Indem wir aber unsre Theorien nir¬ gends einigermaßen zu realisiren wissen, als in der Literatur, so geben wir der Welt der Worte ein unverhältnißmäßiges Übergewicht über das Leben
Zu allen Zeiten offenbarten ſie eine uͤberſchwengliche Kraft und Fuͤlle des Geiſtes, die aus dem Innern hervorbrach und auf die Äußerlichkeiten wenig ach¬ tete. Zu allen Zeiten waren die Deutſchen im prak¬ tiſchen Leben unbehuͤlflicher als andre Nationen, aber einheimiſcher in der innern Welt, und alle ihre na¬ tionellen Tugenden und Laſter koͤnnen auf dieſe Inner¬ keit, Sinnigkeit, Beſchaulichkeit zuruͤckgefuͤhrt werden. Sie iſt es, die uns jetzt vorzugsweiſe zu einem lite¬ rariſchen Volk macht, und zugleich unſrer Literatur ein eigenthuͤmliches Gepraͤge aufdruͤckt. Die Schrif¬ ten andrer Nationen ſind praktiſcher, weil ihr Leben praktiſcher iſt, die unſrigen haben einen Anſtrich von Übernatuͤrlichkeit oder Unnatuͤrlichkeit, etwas Geiſter¬ maͤßiges, Fremdes, das nicht recht in die Welt paſ¬ ſen will, weil wir immer nur die wunderliche Welt unſres Innern im Auge haben. Wir ſind phantaſti¬ ſcher, als andre Voͤlker, nicht nur weil unſre Phan¬ taſie ins Ungeheure von der Wirklichkeit ausſchweift, ſondern auch weil wir unſre Traͤume fuͤr wahr halten. Wie die Einbildungskraft ſchweift unſer Gefuͤhl aus von der albernen Familienſentimentalitaͤt bis zur Überſchwenglichkeit pietiſtiſcher Sekten. Am weiteſten aber ſchweift der Verſtand hinaus ins Blaue und wir ſind als Speculanten und Syſtemmacher uͤberall verſchrien. Indem wir aber unſre Theorien nir¬ gends einigermaßen zu realiſiren wiſſen, als in der Literatur, ſo geben wir der Welt der Worte ein unverhaͤltnißmaͤßiges Übergewicht uͤber das Leben
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Zu allen Zeiten offenbarten ſie eine uͤberſchwengliche
Kraft und Fuͤlle des Geiſtes, die aus dem Innern
hervorbrach und auf die Äußerlichkeiten wenig ach¬
tete. Zu allen Zeiten waren die Deutſchen im prak¬
tiſchen Leben unbehuͤlflicher als andre Nationen, aber
einheimiſcher in der innern Welt, und alle ihre na¬
tionellen Tugenden und Laſter koͤnnen auf dieſe Inner¬
keit, Sinnigkeit, Beſchaulichkeit zuruͤckgefuͤhrt werden.
Sie iſt es, die uns jetzt vorzugsweiſe zu einem lite¬
rariſchen Volk macht, und zugleich unſrer Literatur
ein eigenthuͤmliches Gepraͤge aufdruͤckt. Die Schrif¬
ten andrer Nationen ſind praktiſcher, weil ihr Leben
praktiſcher iſt, die unſrigen haben einen Anſtrich von
Übernatuͤrlichkeit oder Unnatuͤrlichkeit, etwas Geiſter¬
maͤßiges, Fremdes, das nicht recht in die Welt paſ¬
ſen will, weil wir immer nur die wunderliche Welt
unſres Innern im Auge haben. Wir ſind phantaſti¬
ſcher, als andre Voͤlker, nicht nur weil unſre Phan¬
taſie ins Ungeheure von der Wirklichkeit ausſchweift,
ſondern auch weil wir unſre Traͤume fuͤr wahr halten.
Wie die Einbildungskraft ſchweift unſer Gefuͤhl aus
von der albernen Familienſentimentalitaͤt bis zur
Überſchwenglichkeit pietiſtiſcher Sekten. Am weiteſten
aber ſchweift der Verſtand hinaus ins Blaue und
wir ſind als Speculanten und Syſtemmacher uͤberall
verſchrien. Indem wir aber unſre Theorien nir¬
gends einigermaßen zu realiſiren wiſſen, als in der
Literatur, ſo geben wir der Welt der Worte ein
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/32>, abgerufen am 21.11.2024.
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