Poesie in den Schatten stellen. Es ist gut und schön, wenn wir uns über die beschränkten Lebenskreise ein¬ zelner Zeiten und Völker zum Idealen erheben kön¬ nen, aber die naive, kindliche, gläubige Weltansicht, die in jenem engen Kreise befangen bleibt, die Illu¬ sion beschränkter Nationalitäten, Gegenden, Klimate, Kulturstufen und Zeitalter behält ihren hochpoetischen Werth nicht nur für die Befangenen, sondern auch für alle, die darüber stehn, und gleichsam in die Kindheit des Menschengeschlechts zurückblicken.
Das innerste Wesen des historischen Romans ist in etwas ganz anderem zu suchen, als worin die historischen Darstellungen bisher befangen gewesen sind. Im Drama hat man die Geschichte bloß zu einer Probe der menschlichen Kraft, und zur Folie der Ideale gemacht. Im Epos hat man eine gött¬ liche Vorsehung über der Geschichte angenommen, und die Prosa der Wirklichkeit durch Wunder von oben einigermaßen erfrischt und belebt. Dort stand der Mensch frei ausser der Geschichte und ihr kämpfend gegenüber, hier aber fügte die Gottheit die Geschichte ebenfalls von aussen, und behandelte sie als einen tod¬ ten Stoff. Etwas ganz anderes zeigt uns der histo¬ rische Roman, in dem Sinne, wie Walter Scott ihn aufgefaßt. Hier ist der Mensch nur ein Product der Geschichte, gleichsam eine Blüthe, die aus ihrer Mitte hervorvegetirt, von ihren Säften genährt, und von ihren geheimen Kräften festgehalten. Aber auch die Gottheit ist nicht getrennt von dem in der Ge¬
Deutsche Literatur. II. 8
Poeſie in den Schatten ſtellen. Es iſt gut und ſchoͤn, wenn wir uns uͤber die beſchraͤnkten Lebenskreiſe ein¬ zelner Zeiten und Voͤlker zum Idealen erheben koͤn¬ nen, aber die naive, kindliche, glaͤubige Weltanſicht, die in jenem engen Kreiſe befangen bleibt, die Illu¬ ſion beſchraͤnkter Nationalitaͤten, Gegenden, Klimate, Kulturſtufen und Zeitalter behaͤlt ihren hochpoetiſchen Werth nicht nur fuͤr die Befangenen, ſondern auch fuͤr alle, die daruͤber ſtehn, und gleichſam in die Kindheit des Menſchengeſchlechts zuruͤckblicken.
Das innerſte Weſen des hiſtoriſchen Romans iſt in etwas ganz anderem zu ſuchen, als worin die hiſtoriſchen Darſtellungen bisher befangen geweſen ſind. Im Drama hat man die Geſchichte bloß zu einer Probe der menſchlichen Kraft, und zur Folie der Ideale gemacht. Im Epos hat man eine goͤtt¬ liche Vorſehung uͤber der Geſchichte angenommen, und die Proſa der Wirklichkeit durch Wunder von oben einigermaßen erfriſcht und belebt. Dort ſtand der Menſch frei auſſer der Geſchichte und ihr kaͤmpfend gegenuͤber, hier aber fuͤgte die Gottheit die Geſchichte ebenfalls von auſſen, und behandelte ſie als einen tod¬ ten Stoff. Etwas ganz anderes zeigt uns der hiſto¬ riſche Roman, in dem Sinne, wie Walter Scott ihn aufgefaßt. Hier iſt der Menſch nur ein Product der Geſchichte, gleichſam eine Bluͤthe, die aus ihrer Mitte hervorvegetirt, von ihren Saͤften genaͤhrt, und von ihren geheimen Kraͤften feſtgehalten. Aber auch die Gottheit iſt nicht getrennt von dem in der Ge¬
Deutſche Literatur. II. 8
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Poeſie in den Schatten ſtellen. Es iſt gut und ſchoͤn,
wenn wir uns uͤber die beſchraͤnkten Lebenskreiſe ein¬
zelner Zeiten und Voͤlker zum Idealen erheben koͤn¬
nen, aber die naive, kindliche, glaͤubige Weltanſicht,
die in jenem engen Kreiſe befangen bleibt, die Illu¬
ſion beſchraͤnkter Nationalitaͤten, Gegenden, Klimate,
Kulturſtufen und Zeitalter behaͤlt ihren hochpoetiſchen
Werth nicht nur fuͤr die Befangenen, ſondern auch
fuͤr alle, die daruͤber ſtehn, und gleichſam in die
Kindheit des Menſchengeſchlechts zuruͤckblicken.
Das innerſte Weſen des hiſtoriſchen Romans
iſt in etwas ganz anderem zu ſuchen, als worin die
hiſtoriſchen Darſtellungen bisher befangen geweſen
ſind. Im Drama hat man die Geſchichte bloß zu
einer Probe der menſchlichen Kraft, und zur Folie
der Ideale gemacht. Im Epos hat man eine goͤtt¬
liche Vorſehung uͤber der Geſchichte angenommen, und
die Proſa der Wirklichkeit durch Wunder von oben
einigermaßen erfriſcht und belebt. Dort ſtand der
Menſch frei auſſer der Geſchichte und ihr kaͤmpfend
gegenuͤber, hier aber fuͤgte die Gottheit die Geſchichte
ebenfalls von auſſen, und behandelte ſie als einen tod¬
ten Stoff. Etwas ganz anderes zeigt uns der hiſto¬
riſche Roman, in dem Sinne, wie Walter Scott
ihn aufgefaßt. Hier iſt der Menſch nur ein Product
der Geſchichte, gleichſam eine Bluͤthe, die aus ihrer
Mitte hervorvegetirt, von ihren Saͤften genaͤhrt, und
von ihren geheimen Kraͤften feſtgehalten. Aber auch
die Gottheit iſt nicht getrennt von dem in der Ge¬
Deutſche Literatur. II. 8
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/179>, abgerufen am 16.02.2025.
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