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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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in den Vordergrund sich herausstellt, sind immer nur
seine Organe, aus seiner Mitte, aus allen seinen
Classen, ja aus seiner Hefe herausgegriffen. Darum
sind die Helden aller walterscottisirenden Romane
niemals Ideale, sondern nur schlichte Menschen, Re¬
präsentanten einer ganzen Gattung, und sofern ein
solcher Held den ganzen Roman zu beherrschen
scheint, dient er doch nur als ein Faden, um daran
die Länder-, Völker- und Sittengemälde aufzureihen.

Von jeher war das Thema aller Poesie der
Mensch, und auch die neue Romanpoesie kann davon
nicht abweichen; sie faßt aber den Menschen mehr in
der Gattung auf, während er früher mehr in der
Individualität aufgefaßt wurde. Ihr Held ist also
eigentlich nicht mehr der einzelne Mensch, sondern
das Volk. Dadurch wird sie aber eng an die Natur
und die wirkliche Geschichte gebunden, denn die Gat¬
tung folgt unwandelbar dem stillen Zuge der Natur,
nur der Einzelne reißt sich los und strebt nach Idea¬
len. Aus dem Einzelnen kann der Dichter machen,
was er will, aber ein Volk muß er nehmen, wie es
ist. Hier bleibt ihm nur übrig, das Poetische in der
Wirklichkeit zu erkennen, nicht es eigenmächtig zu er¬
schaffen. Wie glücklich man den Menschen idealisirt
hat, so ist es doch nie gelungen, die Gattung im
Ganzen oder nur ein bestimmtes Volk zu idealisiren.
Die Träume von Mustervölkern sind immer sehr leer
und aufgeblasen, die Verschönerungen wirklicher Völ¬
ker, z. B. die Schweizeridyllen eines Clauren, im¬

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in den Vordergrund ſich herausſtellt, ſind immer nur
ſeine Organe, aus ſeiner Mitte, aus allen ſeinen
Claſſen, ja aus ſeiner Hefe herausgegriffen. Darum
ſind die Helden aller walterſcottiſirenden Romane
niemals Ideale, ſondern nur ſchlichte Menſchen, Re¬
praͤſentanten einer ganzen Gattung, und ſofern ein
ſolcher Held den ganzen Roman zu beherrſchen
ſcheint, dient er doch nur als ein Faden, um daran
die Laͤnder-, Voͤlker- und Sittengemaͤlde aufzureihen.

Von jeher war das Thema aller Poeſie der
Menſch, und auch die neue Romanpoeſie kann davon
nicht abweichen; ſie faßt aber den Menſchen mehr in
der Gattung auf, waͤhrend er fruͤher mehr in der
Individualitaͤt aufgefaßt wurde. Ihr Held iſt alſo
eigentlich nicht mehr der einzelne Menſch, ſondern
das Volk. Dadurch wird ſie aber eng an die Natur
und die wirkliche Geſchichte gebunden, denn die Gat¬
tung folgt unwandelbar dem ſtillen Zuge der Natur,
nur der Einzelne reißt ſich los und ſtrebt nach Idea¬
len. Aus dem Einzelnen kann der Dichter machen,
was er will, aber ein Volk muß er nehmen, wie es
iſt. Hier bleibt ihm nur uͤbrig, das Poetiſche in der
Wirklichkeit zu erkennen, nicht es eigenmaͤchtig zu er¬
ſchaffen. Wie gluͤcklich man den Menſchen idealiſirt
hat, ſo iſt es doch nie gelungen, die Gattung im
Ganzen oder nur ein beſtimmtes Volk zu idealiſiren.
Die Traͤume von Muſtervoͤlkern ſind immer ſehr leer
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ker, z. B. die Schweizeridyllen eines Clauren, im¬

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[171/0181] in den Vordergrund ſich herausſtellt, ſind immer nur ſeine Organe, aus ſeiner Mitte, aus allen ſeinen Claſſen, ja aus ſeiner Hefe herausgegriffen. Darum ſind die Helden aller walterſcottiſirenden Romane niemals Ideale, ſondern nur ſchlichte Menſchen, Re¬ praͤſentanten einer ganzen Gattung, und ſofern ein ſolcher Held den ganzen Roman zu beherrſchen ſcheint, dient er doch nur als ein Faden, um daran die Laͤnder-, Voͤlker- und Sittengemaͤlde aufzureihen. Von jeher war das Thema aller Poeſie der Menſch, und auch die neue Romanpoeſie kann davon nicht abweichen; ſie faßt aber den Menſchen mehr in der Gattung auf, waͤhrend er fruͤher mehr in der Individualitaͤt aufgefaßt wurde. Ihr Held iſt alſo eigentlich nicht mehr der einzelne Menſch, ſondern das Volk. Dadurch wird ſie aber eng an die Natur und die wirkliche Geſchichte gebunden, denn die Gat¬ tung folgt unwandelbar dem ſtillen Zuge der Natur, nur der Einzelne reißt ſich los und ſtrebt nach Idea¬ len. Aus dem Einzelnen kann der Dichter machen, was er will, aber ein Volk muß er nehmen, wie es iſt. Hier bleibt ihm nur uͤbrig, das Poetiſche in der Wirklichkeit zu erkennen, nicht es eigenmaͤchtig zu er¬ ſchaffen. Wie gluͤcklich man den Menſchen idealiſirt hat, ſo iſt es doch nie gelungen, die Gattung im Ganzen oder nur ein beſtimmtes Volk zu idealiſiren. Die Traͤume von Muſtervoͤlkern ſind immer ſehr leer und aufgeblaſen, die Verſchoͤnerungen wirklicher Voͤl¬ ker, z. B. die Schweizeridyllen eines Clauren, im¬ 8 *

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/181>, abgerufen am 24.11.2024.