welche die Poesie seit Jahrtausenden erschaffen hat, besser nach den Classen eines psychologischen Systems, worin ein Normalmensch als Typus des ganzen Ge¬ schlechts erscheint, als nach den Fächern der Geo¬ graphie und Geschichte eintheilen, oder, um mich eines philosophischen Ausdrucks zu bedienen, besser nach der Analyse des Möglichen, als nach der Syn¬ thesis des Wirklichen. Die meisten Poesien tragen nur etwas allgemein Menschliches in eine Fabelwelt hinüber, die nirgends existirt, und halten sich nicht an einen wirklichen Ort auf der Erde, an einen wirklichen Zeitraum in der Geschichte. Ihre Helden sind so, wie sie im süßen Traum des Weltverbesse¬ rers erscheinen, nicht wie sie das wirkliche Leben zeigt. Es sind die Ideale aller Tugenden oder auch Laster, aller Vollkommenheiten und Genüsse, oder auch Leiden, die menschenmöglich sind, nicht der treue Spiegel dessen, was wirklich ist. Was ist auch wohl natürlicher und unschuldiger, als die Freuden in der Einbildung zu genießen, die uns in der Wirklichkeit fehlen, und was giebt es Höheres für den Menschen, als in der Poesie sich selbst zu idealisiren, zu ver¬ edeln und zu vergöttlichen, so lange dieß ihm nicht im Leben selbst gelingt. Die Poesie bezeichnet dem Menschen die Bahn zu jeder Größe, Tugend und Heiligkeit, und er soll nicht verkümmern in gemeiner Gewohnheit des Alltäglichen. Aber gerade je freier sich sein Geist erhebt, desto weniger wird er die Na¬ tur und jene ersten heiligen Bande, die uns an das
welche die Poeſie ſeit Jahrtauſenden erſchaffen hat, beſſer nach den Claſſen eines pſychologiſchen Syſtems, worin ein Normalmenſch als Typus des ganzen Ge¬ ſchlechts erſcheint, als nach den Faͤchern der Geo¬ graphie und Geſchichte eintheilen, oder, um mich eines philoſophiſchen Ausdrucks zu bedienen, beſſer nach der Analyſe des Moͤglichen, als nach der Syn¬ theſis des Wirklichen. Die meiſten Poeſien tragen nur etwas allgemein Menſchliches in eine Fabelwelt hinuͤber, die nirgends exiſtirt, und halten ſich nicht an einen wirklichen Ort auf der Erde, an einen wirklichen Zeitraum in der Geſchichte. Ihre Helden ſind ſo, wie ſie im ſuͤßen Traum des Weltverbeſſe¬ rers erſcheinen, nicht wie ſie das wirkliche Leben zeigt. Es ſind die Ideale aller Tugenden oder auch Laſter, aller Vollkommenheiten und Genuͤſſe, oder auch Leiden, die menſchenmoͤglich ſind, nicht der treue Spiegel deſſen, was wirklich iſt. Was iſt auch wohl natuͤrlicher und unſchuldiger, als die Freuden in der Einbildung zu genießen, die uns in der Wirklichkeit fehlen, und was giebt es Hoͤheres fuͤr den Menſchen, als in der Poeſie ſich ſelbſt zu idealiſiren, zu ver¬ edeln und zu vergoͤttlichen, ſo lange dieß ihm nicht im Leben ſelbſt gelingt. Die Poeſie bezeichnet dem Menſchen die Bahn zu jeder Groͤße, Tugend und Heiligkeit, und er ſoll nicht verkuͤmmern in gemeiner Gewohnheit des Alltaͤglichen. Aber gerade je freier ſich ſein Geiſt erhebt, deſto weniger wird er die Na¬ tur und jene erſten heiligen Bande, die uns an das
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beſſer nach den Claſſen eines pſychologiſchen Syſtems,
worin ein Normalmenſch als Typus des ganzen Ge¬
ſchlechts erſcheint, als nach den Faͤchern der Geo¬
graphie und Geſchichte eintheilen, oder, um mich
eines philoſophiſchen Ausdrucks zu bedienen, beſſer
nach der Analyſe des Moͤglichen, als nach der Syn¬
theſis des Wirklichen. Die meiſten Poeſien tragen
nur etwas allgemein Menſchliches in eine Fabelwelt
hinuͤber, die nirgends exiſtirt, und halten ſich nicht
an einen wirklichen Ort auf der Erde, an einen
wirklichen Zeitraum in der Geſchichte. Ihre Helden
ſind ſo, wie ſie im ſuͤßen Traum des Weltverbeſſe¬
rers erſcheinen, nicht wie ſie das wirkliche Leben
zeigt. Es ſind die Ideale aller Tugenden oder auch
Laſter, aller Vollkommenheiten und Genuͤſſe, oder
auch Leiden, die menſchenmoͤglich ſind, nicht der treue
Spiegel deſſen, was wirklich iſt. Was iſt auch wohl
natuͤrlicher und unſchuldiger, als die Freuden in der
Einbildung zu genießen, die uns in der Wirklichkeit
fehlen, und was giebt es Hoͤheres fuͤr den Menſchen,
als in der Poeſie ſich ſelbſt zu idealiſiren, zu ver¬
edeln und zu vergoͤttlichen, ſo lange dieß ihm nicht
im Leben ſelbſt gelingt. Die Poeſie bezeichnet dem
Menſchen die Bahn zu jeder Groͤße, Tugend und
Heiligkeit, und er ſoll nicht verkuͤmmern in gemeiner
Gewohnheit des Alltaͤglichen. Aber gerade je freier
ſich ſein Geiſt erhebt, deſto weniger wird er die Na¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/184>, abgerufen am 21.11.2024.
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