erfassen. Doch hatte sich die Naturerfahrung mit der Speculation noch nie recht vereinigen wollen. Auf eine religiöse, mystische oder phantastische Weise suchte man eine Harmonie der irdischen Erscheinungen, Kos¬ mogonien, allegorische Personificationen der Natur¬ kräfte, spielende Anagramme der Natur, und wenn dem Glauben, dem Gefühl und der Phantasie, oder dem Witz Genüge geleistet war, so bekümmerte man sich um die objective Wahrheit nicht viel. Man er¬ probte die Systeme nur an dem wenigen, was man von der Natur wußte, und dem man häufig eine willkürliche Deutung oder Zusammenstellung gab. Nachdem sich eine unpoetische und unreligiöse, rein em¬ pirische Wissenschaft der Natur von jenen Philoso¬ phemen losgerissen, gingen beide gesonderte Wege. Aber sie mußten an einem bestimmten Punkt dennoch wieder zusammentreffen. Die Speculation mußte sich der Naturerfahrung anschmiegen, und die Erfahrung sich zuletzt durch ihre Vollständigkeit von selbst syste¬ matisiren.
Unter allen Weisen der Natur war Schelling dazu berufen, beide Wege zu vereinigen. Bei seinem ersten Auftreten war die ältere Naturphilosophie von Pythagoras bis auf Jakob Böhme gänzlich verachtet. Er fand nur eine empirische Naturwissenschaft, nur eine unzusammenhängende Menge von einzelnen Be¬ obachtungen, große Sammlungen von naturhistori¬ schen Thatsachen, die man kümmerlich nach oberfläch¬ lichen Kennzeichen zu ordnen suchte, scharfsinnige Ent¬
erfaſſen. Doch hatte ſich die Naturerfahrung mit der Speculation noch nie recht vereinigen wollen. Auf eine religioͤſe, myſtiſche oder phantaſtiſche Weiſe ſuchte man eine Harmonie der irdiſchen Erſcheinungen, Kos¬ mogonien, allegoriſche Perſonificationen der Natur¬ kraͤfte, ſpielende Anagramme der Natur, und wenn dem Glauben, dem Gefuͤhl und der Phantaſie, oder dem Witz Genuͤge geleiſtet war, ſo bekuͤmmerte man ſich um die objective Wahrheit nicht viel. Man er¬ probte die Syſteme nur an dem wenigen, was man von der Natur wußte, und dem man haͤufig eine willkuͤrliche Deutung oder Zuſammenſtellung gab. Nachdem ſich eine unpoetiſche und unreligioͤſe, rein em¬ piriſche Wiſſenſchaft der Natur von jenen Philoſo¬ phemen losgeriſſen, gingen beide geſonderte Wege. Aber ſie mußten an einem beſtimmten Punkt dennoch wieder zuſammentreffen. Die Speculation mußte ſich der Naturerfahrung anſchmiegen, und die Erfahrung ſich zuletzt durch ihre Vollſtaͤndigkeit von ſelbſt ſyſte¬ matiſiren.
Unter allen Weiſen der Natur war Schelling dazu berufen, beide Wege zu vereinigen. Bei ſeinem erſten Auftreten war die aͤltere Naturphiloſophie von Pythagoras bis auf Jakob Boͤhme gaͤnzlich verachtet. Er fand nur eine empiriſche Naturwiſſenſchaft, nur eine unzuſammenhaͤngende Menge von einzelnen Be¬ obachtungen, große Sammlungen von naturhiſtori¬ ſchen Thatſachen, die man kuͤmmerlich nach oberflaͤch¬ lichen Kennzeichen zu ordnen ſuchte, ſcharfſinnige Ent¬
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erfaſſen. Doch hatte ſich die Naturerfahrung mit der
Speculation noch nie recht vereinigen wollen. Auf
eine religioͤſe, myſtiſche oder phantaſtiſche Weiſe ſuchte
man eine Harmonie der irdiſchen Erſcheinungen, Kos¬
mogonien, allegoriſche Perſonificationen der Natur¬
kraͤfte, ſpielende Anagramme der Natur, und wenn
dem Glauben, dem Gefuͤhl und der Phantaſie, oder
dem Witz Genuͤge geleiſtet war, ſo bekuͤmmerte man
ſich um die objective Wahrheit nicht viel. Man er¬
probte die Syſteme nur an dem wenigen, was man
von der Natur wußte, und dem man haͤufig eine
willkuͤrliche Deutung oder Zuſammenſtellung gab.
Nachdem ſich eine unpoetiſche und unreligioͤſe, rein em¬
piriſche Wiſſenſchaft der Natur von jenen Philoſo¬
phemen losgeriſſen, gingen beide geſonderte Wege.
Aber ſie mußten an einem beſtimmten Punkt dennoch
wieder zuſammentreffen. Die Speculation mußte ſich
der Naturerfahrung anſchmiegen, und die Erfahrung
ſich zuletzt durch ihre Vollſtaͤndigkeit von ſelbſt ſyſte¬
matiſiren.
Unter allen Weiſen der Natur war Schelling
dazu berufen, beide Wege zu vereinigen. Bei ſeinem
erſten Auftreten war die aͤltere Naturphiloſophie von
Pythagoras bis auf Jakob Boͤhme gaͤnzlich verachtet.
Er fand nur eine empiriſche Naturwiſſenſchaft, nur
eine unzuſammenhaͤngende Menge von einzelnen Be¬
obachtungen, große Sammlungen von naturhiſtori¬
ſchen Thatſachen, die man kuͤmmerlich nach oberflaͤch¬
lichen Kennzeichen zu ordnen ſuchte, ſcharfſinnige Ent¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/21>, abgerufen am 03.12.2024.
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