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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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ten paßt. Er bezeichnet den Rückfall aus der Cul¬
tur in die ursprüngliche Rohheit, die sich aber, eben
weil ihr die Cultur zur Seite steht, zu beschönigen
sucht. Der rohe, uncultivirte Mensch kann nie ge¬
mein seyn, aber wer cultivirt ist, und dennoch die
ursprüngliche Rohheit nicht lassen kann, sich ihr über¬
läßt, und sie mir beschönigt, der wird gemein. Diese
Gemeinheit ist ein Hauptübel unsrer Zeit. Trotz al¬
ler Cultur fühlt der Mensch sich nach wie vor einer
Menge wilder Leidenschaften hingegeben, und diese
Leidenschaften haben sich unter dem Druck der äußern
Gesittung nur noch mehr vervielfältigt und heftiger
entzündet. Die schmachvollen Krankheiten unsrer Zeit
sind der redende Beweis davon. Aber die Krank¬
heit wird, wie deren Ursach verheimlicht, beschönigt,
und vorzüglich die Dichter haben das Amt über sich
genommen, jeder Gemeinheit den Schleier der Grazie
zu leihen, jede gröbste Neigung der rohen oder ent¬
arteten Natur dem Anstand und der Cultur, der Poesie
und wohl gar der Religion zu verkuppeln. Diese
Kuppler werden dann, wie billig, hoch gepriesen, und
erndten den reichlichen Lohn, den so viele Sünder
gern gewähren. Es sind neue Ablaßkrämer, welche
die Sünden im Namen der Poesie vergeben. Jed¬
wede Gemeinheit wissen sie zu etwas Reizendem,
Billigem, Wünschenswerthem herauszuputzen, jede
Sünde niedlich und liebenswürdig darzustellen, sie
alles Gehässigen zu entkleiden. Haß und Spott rich¬
ten sie nur auf die sogenannte engherzige Moral und

ten paßt. Er bezeichnet den Ruͤckfall aus der Cul¬
tur in die urſpruͤngliche Rohheit, die ſich aber, eben
weil ihr die Cultur zur Seite ſteht, zu beſchoͤnigen
ſucht. Der rohe, uncultivirte Menſch kann nie ge¬
mein ſeyn, aber wer cultivirt iſt, und dennoch die
urſpruͤngliche Rohheit nicht laſſen kann, ſich ihr uͤber¬
laͤßt, und ſie mir beſchoͤnigt, der wird gemein. Dieſe
Gemeinheit iſt ein Hauptuͤbel unſrer Zeit. Trotz al¬
ler Cultur fuͤhlt der Menſch ſich nach wie vor einer
Menge wilder Leidenſchaften hingegeben, und dieſe
Leidenſchaften haben ſich unter dem Druck der aͤußern
Geſittung nur noch mehr vervielfaͤltigt und heftiger
entzuͤndet. Die ſchmachvollen Krankheiten unſrer Zeit
ſind der redende Beweis davon. Aber die Krank¬
heit wird, wie deren Urſach verheimlicht, beſchoͤnigt,
und vorzuͤglich die Dichter haben das Amt uͤber ſich
genommen, jeder Gemeinheit den Schleier der Grazie
zu leihen, jede groͤbſte Neigung der rohen oder ent¬
arteten Natur dem Anſtand und der Cultur, der Poeſie
und wohl gar der Religion zu verkuppeln. Dieſe
Kuppler werden dann, wie billig, hoch geprieſen, und
erndten den reichlichen Lohn, den ſo viele Suͤnder
gern gewaͤhren. Es ſind neue Ablaßkraͤmer, welche
die Suͤnden im Namen der Poeſie vergeben. Jed¬
wede Gemeinheit wiſſen ſie zu etwas Reizendem,
Billigem, Wuͤnſchenswerthem herauszuputzen, jede
Suͤnde niedlich und liebenswuͤrdig darzuſtellen, ſie
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[202/0212] ten paßt. Er bezeichnet den Ruͤckfall aus der Cul¬ tur in die urſpruͤngliche Rohheit, die ſich aber, eben weil ihr die Cultur zur Seite ſteht, zu beſchoͤnigen ſucht. Der rohe, uncultivirte Menſch kann nie ge¬ mein ſeyn, aber wer cultivirt iſt, und dennoch die urſpruͤngliche Rohheit nicht laſſen kann, ſich ihr uͤber¬ laͤßt, und ſie mir beſchoͤnigt, der wird gemein. Dieſe Gemeinheit iſt ein Hauptuͤbel unſrer Zeit. Trotz al¬ ler Cultur fuͤhlt der Menſch ſich nach wie vor einer Menge wilder Leidenſchaften hingegeben, und dieſe Leidenſchaften haben ſich unter dem Druck der aͤußern Geſittung nur noch mehr vervielfaͤltigt und heftiger entzuͤndet. Die ſchmachvollen Krankheiten unſrer Zeit ſind der redende Beweis davon. Aber die Krank¬ heit wird, wie deren Urſach verheimlicht, beſchoͤnigt, und vorzuͤglich die Dichter haben das Amt uͤber ſich genommen, jeder Gemeinheit den Schleier der Grazie zu leihen, jede groͤbſte Neigung der rohen oder ent¬ arteten Natur dem Anſtand und der Cultur, der Poeſie und wohl gar der Religion zu verkuppeln. Dieſe Kuppler werden dann, wie billig, hoch geprieſen, und erndten den reichlichen Lohn, den ſo viele Suͤnder gern gewaͤhren. Es ſind neue Ablaßkraͤmer, welche die Suͤnden im Namen der Poeſie vergeben. Jed¬ wede Gemeinheit wiſſen ſie zu etwas Reizendem, Billigem, Wuͤnſchenswerthem herauszuputzen, jede Suͤnde niedlich und liebenswuͤrdig darzuſtellen, ſie alles Gehaͤſſigen zu entkleiden. Haß und Spott rich¬ ten ſie nur auf die ſogenannte engherzige Moral und

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/212>, abgerufen am 21.11.2024.