Darüber dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir alle Erscheinungen dieser Zeit überblicken. Nirgends finden wir etwas Harmonisches, Zuverlässiges, Dauern¬ des, Vollkommenes, überall nur Zerstörung, Feind¬ schaft, Wechsel, Mängel, Irrthümer. Die Zerris¬ senheit im Ganzen wiederholt sich in jedem Einzelnen. Ursprünglich war der Verstand diese zerreißende Kraft, aber eben derselbe Verstand tröstet uns auch wieder und giebt uns mitten in der Verwirrung ein stolzes Bewußtseyn. Daher wird der Humor beständig zwi¬ schen zwei Gefühlen schwebend erhalten. Er kann nie ganz in tragische Wehmuth versinken, denn im komi¬ schen Frohsinn findet er immer wieder die freie Stelle, wo er über dem beängstigenden Getümmel der Welt erhaben steht. Er kann aber auch nicht blos lachen, denn das, worüber er lacht, ist sein eigner Mangel.
Wir unterscheiden die komische Poesie, welche die Thorheiten und Laster des modernen Lebens ver¬ spottet, von der humoristischen, die dem Spott die tragische Wehmuth beigesellt. In der ersten Art ha¬ ben sich eine große Menge Dichter versucht. Reinecke Fuchs und Eulenspiegel begannen den burlesken Zug in Deutschland. Sebastian Brand, Fischart und viele andere geißelten alle die Narrheiten und Frevel, die den Anfang des modernen Lebens bezeichneten. Pater Abraham a Santa Clara ist schon etwas tragikomisch; ein ernster, oft wehmüthiger Zug läßt sich in allen seinen sonst so possenhaften Grimassen nicht verkennen. Später versank man so sehr in die Anbetung des
Daruͤber duͤrfen wir uns nicht wundern, wenn wir alle Erſcheinungen dieſer Zeit uͤberblicken. Nirgends finden wir etwas Harmoniſches, Zuverlaͤſſiges, Dauern¬ des, Vollkommenes, uͤberall nur Zerſtoͤrung, Feind¬ ſchaft, Wechſel, Maͤngel, Irrthuͤmer. Die Zerriſ¬ ſenheit im Ganzen wiederholt ſich in jedem Einzelnen. Urſpruͤnglich war der Verſtand dieſe zerreißende Kraft, aber eben derſelbe Verſtand troͤſtet uns auch wieder und giebt uns mitten in der Verwirrung ein ſtolzes Bewußtſeyn. Daher wird der Humor beſtaͤndig zwi¬ ſchen zwei Gefuͤhlen ſchwebend erhalten. Er kann nie ganz in tragiſche Wehmuth verſinken, denn im komi¬ ſchen Frohſinn findet er immer wieder die freie Stelle, wo er uͤber dem beaͤngſtigenden Getuͤmmel der Welt erhaben ſteht. Er kann aber auch nicht blos lachen, denn das, woruͤber er lacht, iſt ſein eigner Mangel.
Wir unterſcheiden die komiſche Poeſie, welche die Thorheiten und Laſter des modernen Lebens ver¬ ſpottet, von der humoriſtiſchen, die dem Spott die tragiſche Wehmuth beigeſellt. In der erſten Art ha¬ ben ſich eine große Menge Dichter verſucht. Reinecke Fuchs und Eulenſpiegel begannen den burlesken Zug in Deutſchland. Sebaſtian Brand, Fiſchart und viele andere geißelten alle die Narrheiten und Frevel, die den Anfang des modernen Lebens bezeichneten. Pater Abraham a Santa Clara iſt ſchon etwas tragikomiſch; ein ernſter, oft wehmuͤthiger Zug laͤßt ſich in allen ſeinen ſonſt ſo poſſenhaften Grimaſſen nicht verkennen. Spaͤter verſank man ſo ſehr in die Anbetung des
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Daruͤber duͤrfen wir uns nicht wundern, wenn wir
alle Erſcheinungen dieſer Zeit uͤberblicken. Nirgends
finden wir etwas Harmoniſches, Zuverlaͤſſiges, Dauern¬
des, Vollkommenes, uͤberall nur Zerſtoͤrung, Feind¬
ſchaft, Wechſel, Maͤngel, Irrthuͤmer. Die Zerriſ¬
ſenheit im Ganzen wiederholt ſich in jedem Einzelnen.
Urſpruͤnglich war der Verſtand dieſe zerreißende Kraft,
aber eben derſelbe Verſtand troͤſtet uns auch wieder
und giebt uns mitten in der Verwirrung ein ſtolzes
Bewußtſeyn. Daher wird der Humor beſtaͤndig zwi¬
ſchen zwei Gefuͤhlen ſchwebend erhalten. Er kann nie
ganz in tragiſche Wehmuth verſinken, denn im komi¬
ſchen Frohſinn findet er immer wieder die freie Stelle,
wo er uͤber dem beaͤngſtigenden Getuͤmmel der Welt
erhaben ſteht. Er kann aber auch nicht blos lachen,
denn das, woruͤber er lacht, iſt ſein eigner Mangel.
Wir unterſcheiden die komiſche Poeſie, welche
die Thorheiten und Laſter des modernen Lebens ver¬
ſpottet, von der humoriſtiſchen, die dem Spott die
tragiſche Wehmuth beigeſellt. In der erſten Art ha¬
ben ſich eine große Menge Dichter verſucht. Reinecke
Fuchs und Eulenſpiegel begannen den burlesken Zug
in Deutſchland. Sebaſtian Brand, Fiſchart und viele
andere geißelten alle die Narrheiten und Frevel, die
den Anfang des modernen Lebens bezeichneten. Pater
Abraham a Santa Clara iſt ſchon etwas tragikomiſch;
ein ernſter, oft wehmuͤthiger Zug laͤßt ſich in allen
ſeinen ſonſt ſo poſſenhaften Grimaſſen nicht verkennen.
Spaͤter verſank man ſo ſehr in die Anbetung des
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/244>, abgerufen am 21.11.2024.
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