Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite
Kunst.

So weit wir die Geschichte unsers Volkes ver¬
folgen können, geht durch dasselbe ein tief poetischer
Zug. In der ältern Zeit war das Leben selbst schö¬
ner, in der neuern hat die Poesie sich aus dem Le¬
ben in den betrachtenden und bildenden Geist geflüch¬
tet und ihre Wunder in einer Kunstwelt offenbart,
die über dem Leben steht. Nie ist die Schönheit völ¬
lig von uns gewichen, sie war ein Erbtheil der Na¬
tur, das uns unveräußerlich zugeeignet worden. Wir
sprachen sie ursprünglich in Thaten aus, später im
Glauben, zuletzt in der Betrachtung. Allen Denk¬
malen unsrer Kunst liegt ein tief poetischer Sinn
des Volks zu Grunde, der sich gerade da am innig¬
sten ins Leben selber verliert, wo uns die Denkmale
fehlen. Diese sind daher nur ein schwacher Abdruck
der das Volk durchdringenden Poesie, und sie er¬
scheinen immer dürftiger, je weiter wir in der Ge¬
schichte zurückgehn, weil in demselben Maaße das
Schöne mehr dem Leben selbst angehörte und mit ihm

Kunſt.

So weit wir die Geſchichte unſers Volkes ver¬
folgen koͤnnen, geht durch daſſelbe ein tief poetiſcher
Zug. In der aͤltern Zeit war das Leben ſelbſt ſchoͤ¬
ner, in der neuern hat die Poeſie ſich aus dem Le¬
ben in den betrachtenden und bildenden Geiſt gefluͤch¬
tet und ihre Wunder in einer Kunſtwelt offenbart,
die uͤber dem Leben ſteht. Nie iſt die Schoͤnheit voͤl¬
lig von uns gewichen, ſie war ein Erbtheil der Na¬
tur, das uns unveraͤußerlich zugeeignet worden. Wir
ſprachen ſie urſpruͤnglich in Thaten aus, ſpaͤter im
Glauben, zuletzt in der Betrachtung. Allen Denk¬
malen unſrer Kunſt liegt ein tief poetiſcher Sinn
des Volks zu Grunde, der ſich gerade da am innig¬
ſten ins Leben ſelber verliert, wo uns die Denkmale
fehlen. Dieſe ſind daher nur ein ſchwacher Abdruck
der das Volk durchdringenden Poeſie, und ſie er¬
ſcheinen immer duͤrftiger, je weiter wir in der Ge¬
ſchichte zuruͤckgehn, weil in demſelben Maaße das
Schoͤne mehr dem Leben ſelbſt angehoͤrte und mit ihm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0055" n="45"/>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#g">Kun&#x017F;t.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>So weit wir die Ge&#x017F;chichte un&#x017F;ers Volkes ver¬<lb/>
folgen ko&#x0364;nnen, geht durch da&#x017F;&#x017F;elbe ein tief poeti&#x017F;cher<lb/>
Zug. In der a&#x0364;ltern Zeit war das Leben &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;cho&#x0364;¬<lb/>
ner, in der neuern hat die Poe&#x017F;ie &#x017F;ich aus dem Le¬<lb/>
ben in den betrachtenden und bildenden Gei&#x017F;t geflu&#x0364;ch¬<lb/>
tet und ihre Wunder in einer Kun&#x017F;twelt offenbart,<lb/>
die u&#x0364;ber dem Leben &#x017F;teht. Nie i&#x017F;t die Scho&#x0364;nheit vo&#x0364;<lb/>
lig von uns gewichen, &#x017F;ie war ein Erbtheil der Na¬<lb/>
tur, das uns unvera&#x0364;ußerlich zugeeignet worden. Wir<lb/>
&#x017F;prachen &#x017F;ie ur&#x017F;pru&#x0364;nglich in Thaten aus, &#x017F;pa&#x0364;ter im<lb/>
Glauben, zuletzt in der Betrachtung. Allen Denk¬<lb/>
malen un&#x017F;rer Kun&#x017F;t liegt ein tief poeti&#x017F;cher Sinn<lb/>
des Volks zu Grunde, der &#x017F;ich gerade da am innig¬<lb/>
&#x017F;ten ins Leben &#x017F;elber verliert, wo uns die Denkmale<lb/>
fehlen. Die&#x017F;e &#x017F;ind daher nur ein &#x017F;chwacher Abdruck<lb/>
der das Volk durchdringenden Poe&#x017F;ie, und &#x017F;ie er¬<lb/>
&#x017F;cheinen immer du&#x0364;rftiger, je weiter wir in der Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte zuru&#x0364;ckgehn, weil in dem&#x017F;elben Maaße das<lb/>
Scho&#x0364;ne mehr dem Leben &#x017F;elb&#x017F;t angeho&#x0364;rte und mit ihm<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0055] Kunſt. So weit wir die Geſchichte unſers Volkes ver¬ folgen koͤnnen, geht durch daſſelbe ein tief poetiſcher Zug. In der aͤltern Zeit war das Leben ſelbſt ſchoͤ¬ ner, in der neuern hat die Poeſie ſich aus dem Le¬ ben in den betrachtenden und bildenden Geiſt gefluͤch¬ tet und ihre Wunder in einer Kunſtwelt offenbart, die uͤber dem Leben ſteht. Nie iſt die Schoͤnheit voͤl¬ lig von uns gewichen, ſie war ein Erbtheil der Na¬ tur, das uns unveraͤußerlich zugeeignet worden. Wir ſprachen ſie urſpruͤnglich in Thaten aus, ſpaͤter im Glauben, zuletzt in der Betrachtung. Allen Denk¬ malen unſrer Kunſt liegt ein tief poetiſcher Sinn des Volks zu Grunde, der ſich gerade da am innig¬ ſten ins Leben ſelber verliert, wo uns die Denkmale fehlen. Dieſe ſind daher nur ein ſchwacher Abdruck der das Volk durchdringenden Poeſie, und ſie er¬ ſcheinen immer duͤrftiger, je weiter wir in der Ge¬ ſchichte zuruͤckgehn, weil in demſelben Maaße das Schoͤne mehr dem Leben ſelbſt angehoͤrte und mit ihm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/55
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/55>, abgerufen am 11.12.2024.