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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Wenn man die neue Entwicklung der deutschen
Poesie außerordentlich zu preisen pflegt, so hat man
unstreitig ein Recht dazu. Die Kunst hat sich in je¬
der Hinsicht vervollkommnet und unsterbliche Werke
hervorgebracht, die das Andenken unsrer Zeit der
spätesten Nachwelt überliefern werden. Die Humc¬
nität ist durch unsre Dichter weit allgemeiner und
eindringlicher gefördert worden, als durch irgend
einen Moralisten oder das Unglück. Die Literatur
selbst hat einen neuen großen Schwung erhalten, da
die Dichter den ganzen Zauber unsrer Sprache ent¬
faltet und die Gelehrten wieder deutsch gelehrt ha¬
ben, nachdem sie in die äußerste Sprachbarbarei ver¬
fallen waren.

Die ganze neuere Poesie der Deutschen bildet
einen besondern Cyclus, der in demjenigen der ge¬
sammten neuern Poesie Europas eingeschlossen und
mit demselben von aller frühern Poesie des Mittel¬
alters, des Orients, der Griechen und Römer und
des mythischen Alterthums getrennt werden muß. An
der Pforte der gesammten neuern Poesie steht Dante,
an der Pforte der deutschen Jakob Böhme, beide
gleich einsam. Der letzte Abglanz des Mittelalters
ward noch zum Heiligenschein des neugebornen Kin¬
des. Gotttrunkne Seher tauften es mit heiligem
Feuer. Dante sah in die Abendröthe des Mittel¬
alters, Jakob Böhme in die Morgenröthe der neuen
Welt. Dem feierlichen magischen Morgen aber folgte
bald ein heller, bunter, lärmender, weltlicher Tag.

Wenn man die neue Entwicklung der deutſchen
Poeſie außerordentlich zu preiſen pflegt, ſo hat man
unſtreitig ein Recht dazu. Die Kunſt hat ſich in je¬
der Hinſicht vervollkommnet und unſterbliche Werke
hervorgebracht, die das Andenken unſrer Zeit der
ſpaͤteſten Nachwelt uͤberliefern werden. Die Humc¬
nitaͤt iſt durch unſre Dichter weit allgemeiner und
eindringlicher gefoͤrdert worden, als durch irgend
einen Moraliſten oder das Ungluͤck. Die Literatur
ſelbſt hat einen neuen großen Schwung erhalten, da
die Dichter den ganzen Zauber unſrer Sprache ent¬
faltet und die Gelehrten wieder deutſch gelehrt ha¬
ben, nachdem ſie in die aͤußerſte Sprachbarbarei ver¬
fallen waren.

Die ganze neuere Poeſie der Deutſchen bildet
einen beſondern Cyclus, der in demjenigen der ge¬
ſammten neuern Poeſie Europas eingeſchloſſen und
mit demſelben von aller fruͤhern Poeſie des Mittel¬
alters, des Orients, der Griechen und Roͤmer und
des mythiſchen Alterthums getrennt werden muß. An
der Pforte der geſammten neuern Poeſie ſteht Dante,
an der Pforte der deutſchen Jakob Boͤhme, beide
gleich einſam. Der letzte Abglanz des Mittelalters
ward noch zum Heiligenſchein des neugebornen Kin¬
des. Gotttrunkne Seher tauften es mit heiligem
Feuer. Dante ſah in die Abendroͤthe des Mittel¬
alters, Jakob Boͤhme in die Morgenroͤthe der neuen
Welt. Dem feierlichen magiſchen Morgen aber folgte
bald ein heller, bunter, laͤrmender, weltlicher Tag.

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[56/0066] Wenn man die neue Entwicklung der deutſchen Poeſie außerordentlich zu preiſen pflegt, ſo hat man unſtreitig ein Recht dazu. Die Kunſt hat ſich in je¬ der Hinſicht vervollkommnet und unſterbliche Werke hervorgebracht, die das Andenken unſrer Zeit der ſpaͤteſten Nachwelt uͤberliefern werden. Die Humc¬ nitaͤt iſt durch unſre Dichter weit allgemeiner und eindringlicher gefoͤrdert worden, als durch irgend einen Moraliſten oder das Ungluͤck. Die Literatur ſelbſt hat einen neuen großen Schwung erhalten, da die Dichter den ganzen Zauber unſrer Sprache ent¬ faltet und die Gelehrten wieder deutſch gelehrt ha¬ ben, nachdem ſie in die aͤußerſte Sprachbarbarei ver¬ fallen waren. Die ganze neuere Poeſie der Deutſchen bildet einen beſondern Cyclus, der in demjenigen der ge¬ ſammten neuern Poeſie Europas eingeſchloſſen und mit demſelben von aller fruͤhern Poeſie des Mittel¬ alters, des Orients, der Griechen und Roͤmer und des mythiſchen Alterthums getrennt werden muß. An der Pforte der geſammten neuern Poeſie ſteht Dante, an der Pforte der deutſchen Jakob Boͤhme, beide gleich einſam. Der letzte Abglanz des Mittelalters ward noch zum Heiligenſchein des neugebornen Kin¬ des. Gotttrunkne Seher tauften es mit heiligem Feuer. Dante ſah in die Abendroͤthe des Mittel¬ alters, Jakob Boͤhme in die Morgenroͤthe der neuen Welt. Dem feierlichen magiſchen Morgen aber folgte bald ein heller, bunter, laͤrmender, weltlicher Tag.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/66>, abgerufen am 30.11.2024.