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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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plastischen Naturtriebs, der jenes Menschenalter aus
dem dunkeln Mutterschooß der kosmischen Zeit be¬
freite, aber ihm zugleich die bestimmte Gestalt einer
in sich begränzten Vegetation gab. Als dieses Leben
in der einseitigen Richtung abgeblüht, begann ein
andrer großer Menschenstamm sich nach einer neuen
Richtung zu entfalten. Wie dort die Sinnlichkeit
zuerst sich losgerissen vom allgemeinen Leben, so suchte
hier das Gemüth sich selber zu ergreifen und die er¬
wachende Sonne der Liebe rief aus der erstarrten
Memnonssäule des Volks die ersten Töne hervor.
Das Gemüth der Völker sprach in eigenthümlichen
Naturlauten sich aus, die jetzt verhallt sind, wie aller
Ton verhallt, von denen nur ein fernes Echo noch
Zeugniß gibt. Dies sind die "Stimmen der Völker",
wie Herder sie genannt, wie alte Sagen sie bezeich¬
nen, wie sie noch jetzt in Volksliedern nachklingen,
und wie sie noch rein und ursprünglich vernommen
werden bei den heidnischen Stämmen entlegner Welt¬
theile.

In dieser Richtung wurden die Völker ergriffen
vom Christenthum und sie entfaltete die höchste Blüthe
im Mittelalter. Das nationelle Gemüth wurde Welt¬
gemüth; die Stimme, nur dem nationellen Ohr ver¬
traut, wurde Bild, den Augen aller offenbar. Die
Poesie wurde wieder kosmisch und darum auch wie¬
der in dem Maaß architektonisch, als die Malerei
es ist; wie sie von universeller Kosmogonie ausge¬
gangen in individueller Plastik erstarrt war, ergoß

plaſtiſchen Naturtriebs, der jenes Menſchenalter aus
dem dunkeln Mutterſchooß der kosmiſchen Zeit be¬
freite, aber ihm zugleich die beſtimmte Geſtalt einer
in ſich begraͤnzten Vegetation gab. Als dieſes Leben
in der einſeitigen Richtung abgebluͤht, begann ein
andrer großer Menſchenſtamm ſich nach einer neuen
Richtung zu entfalten. Wie dort die Sinnlichkeit
zuerſt ſich losgeriſſen vom allgemeinen Leben, ſo ſuchte
hier das Gemuͤth ſich ſelber zu ergreifen und die er¬
wachende Sonne der Liebe rief aus der erſtarrten
Memnonsſaͤule des Volks die erſten Toͤne hervor.
Das Gemuͤth der Voͤlker ſprach in eigenthuͤmlichen
Naturlauten ſich aus, die jetzt verhallt ſind, wie aller
Ton verhallt, von denen nur ein fernes Echo noch
Zeugniß gibt. Dies ſind die «Stimmen der Voͤlker»,
wie Herder ſie genannt, wie alte Sagen ſie bezeich¬
nen, wie ſie noch jetzt in Volksliedern nachklingen,
und wie ſie noch rein und urſpruͤnglich vernommen
werden bei den heidniſchen Staͤmmen entlegner Welt¬
theile.

In dieſer Richtung wurden die Voͤlker ergriffen
vom Chriſtenthum und ſie entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe
im Mittelalter. Das nationelle Gemuͤth wurde Welt¬
gemuͤth; die Stimme, nur dem nationellen Ohr ver¬
traut, wurde Bild, den Augen aller offenbar. Die
Poeſie wurde wieder kosmiſch und darum auch wie¬
der in dem Maaß architektoniſch, als die Malerei
es iſt; wie ſie von univerſeller Kosmogonie ausge¬
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[60/0070] plaſtiſchen Naturtriebs, der jenes Menſchenalter aus dem dunkeln Mutterſchooß der kosmiſchen Zeit be¬ freite, aber ihm zugleich die beſtimmte Geſtalt einer in ſich begraͤnzten Vegetation gab. Als dieſes Leben in der einſeitigen Richtung abgebluͤht, begann ein andrer großer Menſchenſtamm ſich nach einer neuen Richtung zu entfalten. Wie dort die Sinnlichkeit zuerſt ſich losgeriſſen vom allgemeinen Leben, ſo ſuchte hier das Gemuͤth ſich ſelber zu ergreifen und die er¬ wachende Sonne der Liebe rief aus der erſtarrten Memnonsſaͤule des Volks die erſten Toͤne hervor. Das Gemuͤth der Voͤlker ſprach in eigenthuͤmlichen Naturlauten ſich aus, die jetzt verhallt ſind, wie aller Ton verhallt, von denen nur ein fernes Echo noch Zeugniß gibt. Dies ſind die «Stimmen der Voͤlker», wie Herder ſie genannt, wie alte Sagen ſie bezeich¬ nen, wie ſie noch jetzt in Volksliedern nachklingen, und wie ſie noch rein und urſpruͤnglich vernommen werden bei den heidniſchen Staͤmmen entlegner Welt¬ theile. In dieſer Richtung wurden die Voͤlker ergriffen vom Chriſtenthum und ſie entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe im Mittelalter. Das nationelle Gemuͤth wurde Welt¬ gemuͤth; die Stimme, nur dem nationellen Ohr ver¬ traut, wurde Bild, den Augen aller offenbar. Die Poeſie wurde wieder kosmiſch und darum auch wie¬ der in dem Maaß architektoniſch, als die Malerei es iſt; wie ſie von univerſeller Kosmogonie ausge¬ gangen in individueller Plaſtik erſtarrt war, ergoß

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/70>, abgerufen am 19.05.2024.