sondern steht ihm gegenüber, wie der Traum dem Wachen. Sie ist nichts Unwillkürliches, Nothwen¬ diges mehr, nicht mehr die Ausgießung eines heili¬ gen Geistes, der von innen kommt, nicht mehr Schö¬ pfung eines drängenden, unbewußten, unwillkürlichen Naturtriebs, nicht mehr das freie Wachsthum, von dem man nicht weiß, wie es entsteht. Sie ist viel¬ mehr eine Fertigkeit geworden, die man nach Will¬ kür anwendet, so oder anders, und ein bloßes Spiel¬ zeug für die Unterhaltung. Sie entsteht nicht mehr, sie wird nur gemacht; sie ist nicht mehr, sie scheint nur; sie glaubt an sich selbst nicht mehr, sie will nur täuschen. Zum Dichten bedarf man nicht mehr der innern heiligen Begeisterung, sondern nur einige Kenntniß von dem, was die Leute belustigt, und ei¬ niges Talent. An die Stelle des unbewußten Dran¬ ges im Gemüth ist ein vollkommen klares Bewußt¬ seyn im Verstande getreten. Der Dichter schafft nicht, wie ihn der dunkle Trieb dazu zwingt. Er setzt sich hin und reflectirt, was will ich machen, und wie muß ich es machen, um die Leute zu belustigen? Dasselbe Talent, was früher sich von selbst einfand, wenn das Gemüth des Dichters in poetischer Be¬ geisterung war, gehorcht jetzt den ängstlichen Vor¬ schriften des Verstandes. Ehemals hatten die Dich¬ ter keinen Zweck, sie sprachen sich nur aus, wie die Quelle sich ergießt, und wie der Vogel singt. Sie waren größer, als andre, wie ein Berg höher ist als andre. Jetzt aber haben sie den Zweck, die Leute
ſondern ſteht ihm gegenuͤber, wie der Traum dem Wachen. Sie iſt nichts Unwillkuͤrliches, Nothwen¬ diges mehr, nicht mehr die Ausgießung eines heili¬ gen Geiſtes, der von innen kommt, nicht mehr Schoͤ¬ pfung eines draͤngenden, unbewußten, unwillkuͤrlichen Naturtriebs, nicht mehr das freie Wachsthum, von dem man nicht weiß, wie es entſteht. Sie iſt viel¬ mehr eine Fertigkeit geworden, die man nach Will¬ kuͤr anwendet, ſo oder anders, und ein bloßes Spiel¬ zeug fuͤr die Unterhaltung. Sie entſteht nicht mehr, ſie wird nur gemacht; ſie iſt nicht mehr, ſie ſcheint nur; ſie glaubt an ſich ſelbſt nicht mehr, ſie will nur taͤuſchen. Zum Dichten bedarf man nicht mehr der innern heiligen Begeiſterung, ſondern nur einige Kenntniß von dem, was die Leute beluſtigt, und ei¬ niges Talent. An die Stelle des unbewußten Dran¬ ges im Gemuͤth iſt ein vollkommen klares Bewußt¬ ſeyn im Verſtande getreten. Der Dichter ſchafft nicht, wie ihn der dunkle Trieb dazu zwingt. Er ſetzt ſich hin und reflectirt, was will ich machen, und wie muß ich es machen, um die Leute zu beluſtigen? Daſſelbe Talent, was fruͤher ſich von ſelbſt einfand, wenn das Gemuͤth des Dichters in poetiſcher Be¬ geiſterung war, gehorcht jetzt den aͤngſtlichen Vor¬ ſchriften des Verſtandes. Ehemals hatten die Dich¬ ter keinen Zweck, ſie ſprachen ſich nur aus, wie die Quelle ſich ergießt, und wie der Vogel ſingt. Sie waren groͤßer, als andre, wie ein Berg hoͤher iſt als andre. Jetzt aber haben ſie den Zweck, die Leute
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ſondern ſteht ihm gegenuͤber, wie der Traum dem
Wachen. Sie iſt nichts Unwillkuͤrliches, Nothwen¬
diges mehr, nicht mehr die Ausgießung eines heili¬
gen Geiſtes, der von innen kommt, nicht mehr Schoͤ¬
pfung eines draͤngenden, unbewußten, unwillkuͤrlichen
Naturtriebs, nicht mehr das freie Wachsthum, von
dem man nicht weiß, wie es entſteht. Sie iſt viel¬
mehr eine Fertigkeit geworden, die man nach Will¬
kuͤr anwendet, ſo oder anders, und ein bloßes Spiel¬
zeug fuͤr die Unterhaltung. Sie entſteht nicht mehr,
ſie wird nur gemacht; ſie iſt nicht mehr, ſie ſcheint
nur; ſie glaubt an ſich ſelbſt nicht mehr, ſie will nur
taͤuſchen. Zum Dichten bedarf man nicht mehr der
innern heiligen Begeiſterung, ſondern nur einige
Kenntniß von dem, was die Leute beluſtigt, und ei¬
niges Talent. An die Stelle des unbewußten Dran¬
ges im Gemuͤth iſt ein vollkommen klares Bewußt¬
ſeyn im Verſtande getreten. Der Dichter ſchafft nicht,
wie ihn der dunkle Trieb dazu zwingt. Er ſetzt ſich
hin und reflectirt, was will ich machen, und wie
muß ich es machen, um die Leute zu beluſtigen?
Daſſelbe Talent, was fruͤher ſich von ſelbſt einfand,
wenn das Gemuͤth des Dichters in poetiſcher Be¬
geiſterung war, gehorcht jetzt den aͤngſtlichen Vor¬
ſchriften des Verſtandes. Ehemals hatten die Dich¬
ter keinen Zweck, ſie ſprachen ſich nur aus, wie die
Quelle ſich ergießt, und wie der Vogel ſingt. Sie
waren groͤßer, als andre, wie ein Berg hoͤher iſt
als andre. Jetzt aber haben ſie den Zweck, die Leute
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/72>, abgerufen am 30.11.2024.
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