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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Alte Schrift.
Jüngst verlockt' es mich im Abendglimmen,
Zum Lombardenthurm emporzuklimmen,
Dem verschollnen Herrscher hier im Gaue,
Der die Ferne noch beherrscht, die blaue.
In den Trümmern bin ich lang geblieben:
Wandrernamen standen rings geschrieben
Hoch im Raum -- der Boden war gewichen,
Lettern und Gebilde halb erblichen.
Einer dichtet ANNO MD:
"Gott hab' ich in der Natur bewundert!"
"Gaudeamus!" gräbt ein flotter Zecher
Um den keck entworfnen Riesenbecher.
Dort ein Herz von einem Pfeil durchschnitten:
"Hedewig" steht auf des Bolzes Mitten;
Dicht daneben setzt ein Zeitgenosse
Gut lateinisch eine derbe Posse --
Dann zur Rast in des Castelles Schatten
Legten sich die Schüler auf die Matten,
Schlürften eines Humpens rothe Wellen
Und mir ist: ich trink' mit den Gesellen.

Alte Schrift.
Jüngſt verlockt' es mich im Abendglimmen,
Zum Lombardenthurm emporzuklimmen,
Dem verſchollnen Herrſcher hier im Gaue,
Der die Ferne noch beherrſcht, die blaue.
In den Trümmern bin ich lang geblieben:
Wandrernamen ſtanden rings geſchrieben
Hoch im Raum — der Boden war gewichen,
Lettern und Gebilde halb erblichen.
Einer dichtet ANNO MD:
„Gott hab' ich in der Natur bewundert!“
„Gaudeamus!“ gräbt ein flotter Zecher
Um den keck entworfnen Rieſenbecher.
Dort ein Herz von einem Pfeil durchſchnitten:
„Hedewig“ ſteht auf des Bolzes Mitten;
Dicht daneben ſetzt ein Zeitgenoſſe
Gut lateiniſch eine derbe Poſſe —
Dann zur Raſt in des Caſtelles Schatten
Legten ſich die Schüler auf die Matten,
Schlürften eines Humpens rothe Wellen
Und mir iſt: ich trink' mit den Geſellen.

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[100/0114] Alte Schrift. Jüngſt verlockt' es mich im Abendglimmen, Zum Lombardenthurm emporzuklimmen, Dem verſchollnen Herrſcher hier im Gaue, Der die Ferne noch beherrſcht, die blaue. In den Trümmern bin ich lang geblieben: Wandrernamen ſtanden rings geſchrieben Hoch im Raum — der Boden war gewichen, Lettern und Gebilde halb erblichen. Einer dichtet ANNO MD: „Gott hab' ich in der Natur bewundert!“ „Gaudeamus!“ gräbt ein flotter Zecher Um den keck entworfnen Rieſenbecher. Dort ein Herz von einem Pfeil durchſchnitten: „Hedewig“ ſteht auf des Bolzes Mitten; Dicht daneben ſetzt ein Zeitgenoſſe Gut lateiniſch eine derbe Poſſe — Dann zur Raſt in des Caſtelles Schatten Legten ſich die Schüler auf die Matten, Schlürften eines Humpens rothe Wellen Und mir iſt: ich trink' mit den Geſellen.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/114>, abgerufen am 27.11.2024.