Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Pilger und die Sarazenin.
Jüngst am Libanon in einem Kloster,
Drin ich eine kurze Reiserast hielt,
Langsam durch die kühlen Hallen wandelnd,
Blieb ich stehn vor einem alten Bilde,
Wohlbewahrt in eigener Capelle.
Es berührte mich mit leisem Zauber
Trotz der byzantinischen Gestalten,
Denn darüber lag ein Glanz der Liebe:
Durch das Thor des Paradieses schritten
Eine Sarazenin und ein Pilger,
Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch.
"Was bedeutet dieses süße Märchen?"
Frug ich Anaklet, den Klosterbruder,
Der mich schleichend überall begleitet.
Mit gesenkten Augen gab er Antwort:
"Guter Herr, kein süßes Märchen ist es,
Sondern eine tröstliche Legende,
Auf ein altes Pergament verzeichnet
Zur Erbauung aller gläub'gen Christen.
Dieser Pilger ist ein heilger Märtrer,
Eine Märtrin ist die Sarazenin,
Er verschied, gesteinigt und gepeinigt,
Sie verblich, umarmend eine Schwelle!"
Der Pilger und die Sarazenin.
Jüngſt am Libanon in einem Kloſter,
Drin ich eine kurze Reiſeraſt hielt,
Langſam durch die kühlen Hallen wandelnd,
Blieb ich ſtehn vor einem alten Bilde,
Wohlbewahrt in eigener Capelle.
Es berührte mich mit leiſem Zauber
Trotz der byzantiniſchen Geſtalten,
Denn darüber lag ein Glanz der Liebe:
Durch das Thor des Paradieſes ſchritten
Eine Sarazenin und ein Pilger,
Hand in Hand verſenkt und Blick in Blick auch.
„Was bedeutet dieſes ſüße Märchen?“
Frug ich Anaklet, den Kloſterbruder,
Der mich ſchleichend überall begleitet.
Mit geſenkten Augen gab er Antwort:
„Guter Herr, kein ſüßes Märchen iſt es,
Sondern eine tröſtliche Legende,
Auf ein altes Pergament verzeichnet
Zur Erbauung aller gläub'gen Chriſten.
Dieſer Pilger iſt ein heilger Märtrer,
Eine Märtrin iſt die Sarazenin,
Er verſchied, geſteinigt und gepeinigt,
Sie verblich, umarmend eine Schwelle!“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0245" n="231"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>Der Pilger und die Sarazenin.<lb/></head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Jüng&#x017F;t am Libanon in einem Klo&#x017F;ter,</l><lb/>
              <l>Drin ich eine kurze Rei&#x017F;era&#x017F;t hielt,</l><lb/>
              <l>Lang&#x017F;am durch die kühlen Hallen wandelnd,</l><lb/>
              <l>Blieb ich &#x017F;tehn vor einem alten Bilde,</l><lb/>
              <l>Wohlbewahrt in eigener Capelle.</l><lb/>
              <l>Es berührte mich mit lei&#x017F;em Zauber</l><lb/>
              <l>Trotz der byzantini&#x017F;chen Ge&#x017F;talten,</l><lb/>
              <l>Denn darüber lag ein Glanz der Liebe:</l><lb/>
              <l>Durch das Thor des Paradie&#x017F;es &#x017F;chritten</l><lb/>
              <l>Eine Sarazenin und ein Pilger,</l><lb/>
              <l>Hand in Hand ver&#x017F;enkt und Blick in Blick auch.</l><lb/>
              <l>&#x201E;Was bedeutet die&#x017F;es &#x017F;üße Märchen?&#x201C;</l><lb/>
              <l>Frug ich Anaklet, den Klo&#x017F;terbruder,</l><lb/>
              <l>Der mich &#x017F;chleichend überall begleitet.</l><lb/>
              <l>Mit ge&#x017F;enkten Augen gab er Antwort:</l><lb/>
              <l>&#x201E;Guter Herr, kein &#x017F;üßes Märchen i&#x017F;t es,</l><lb/>
              <l>Sondern eine trö&#x017F;tliche Legende,</l><lb/>
              <l>Auf ein altes Pergament verzeichnet</l><lb/>
              <l>Zur Erbauung aller gläub'gen Chri&#x017F;ten.</l><lb/>
              <l>Die&#x017F;er Pilger i&#x017F;t ein heilger Märtrer,</l><lb/>
              <l>Eine Märtrin i&#x017F;t die Sarazenin,</l><lb/>
              <l>Er ver&#x017F;chied, ge&#x017F;teinigt und gepeinigt,</l><lb/>
              <l>Sie verblich, umarmend eine Schwelle!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0245] Der Pilger und die Sarazenin. Jüngſt am Libanon in einem Kloſter, Drin ich eine kurze Reiſeraſt hielt, Langſam durch die kühlen Hallen wandelnd, Blieb ich ſtehn vor einem alten Bilde, Wohlbewahrt in eigener Capelle. Es berührte mich mit leiſem Zauber Trotz der byzantiniſchen Geſtalten, Denn darüber lag ein Glanz der Liebe: Durch das Thor des Paradieſes ſchritten Eine Sarazenin und ein Pilger, Hand in Hand verſenkt und Blick in Blick auch. „Was bedeutet dieſes ſüße Märchen?“ Frug ich Anaklet, den Kloſterbruder, Der mich ſchleichend überall begleitet. Mit geſenkten Augen gab er Antwort: „Guter Herr, kein ſüßes Märchen iſt es, Sondern eine tröſtliche Legende, Auf ein altes Pergament verzeichnet Zur Erbauung aller gläub'gen Chriſten. Dieſer Pilger iſt ein heilger Märtrer, Eine Märtrin iſt die Sarazenin, Er verſchied, geſteinigt und gepeinigt, Sie verblich, umarmend eine Schwelle!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/245
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/245>, abgerufen am 21.11.2024.