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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Hört sie mit den Sinnen ihres Geistes
Leise stöhnen einen Todeswunden
Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.
Ferne blieb der Schlummer ihren Lidern,
Endlich kam der Schlummer und ein Traum kam.

Rings empor an eines Gipfels Abhang
Klommen mit erbaulichen Gesängen
Pilger auf zum Thor des Paradieses.
Einer klomm voran, ein heil'ger Märtrer,
Den die andern grüßten ehrerbietig.
In des Thores Wölbung stand der Heiland:
"Tritt herein! Du hast für mich geblutet!"
Doch der Pilger weigerte sich standhaft:
"Heiland, laß mich liegen auf der Schwelle,
Bis sie kommt die stündlich ich erwarte!
Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch,
Tritt sie, mir gesellt, in Deine Freude,
Keine Sarazenin, eine Christin.
Solches träumend, stürzten ihr die Thränen
So gewaltig, daß sie drob erwachte.
Jählings springt sie auf von ihrem Lager,
Fliegt hinab des Hauses hundert Stufen:
Leer und blutbegossen lag die Schwelle
In des ungebornen Tages Frühlicht.
Auf die harte Schwelle kniet sie nieder,

Hört ſie mit den Sinnen ihres Geiſtes
Leiſe ſtöhnen einen Todeswunden
Auf der Schwelle vor des Hauſes Pforte.
Ferne blieb der Schlummer ihren Lidern,
Endlich kam der Schlummer und ein Traum kam.

Rings empor an eines Gipfels Abhang
Klommen mit erbaulichen Geſängen
Pilger auf zum Thor des Paradieſes.
Einer klomm voran, ein heil'ger Märtrer,
Den die andern grüßten ehrerbietig.
In des Thores Wölbung ſtand der Heiland:
„Tritt herein! Du haſt für mich geblutet!“
Doch der Pilger weigerte ſich ſtandhaft:
„Heiland, laß mich liegen auf der Schwelle,
Bis ſie kommt die ſtündlich ich erwarte!
Hand in Hand verſenkt und Blick in Blick auch,
Tritt ſie, mir geſellt, in Deine Freude,
Keine Sarazenin, eine Chriſtin.
Solches träumend, ſtürzten ihr die Thränen
So gewaltig, daß ſie drob erwachte.
Jählings ſpringt ſie auf von ihrem Lager,
Fliegt hinab des Hauſes hundert Stufen:
Leer und blutbegoſſen lag die Schwelle
In des ungebornen Tages Frühlicht.
Auf die harte Schwelle kniet ſie nieder,
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[235/0249] Hört ſie mit den Sinnen ihres Geiſtes Leiſe ſtöhnen einen Todeswunden Auf der Schwelle vor des Hauſes Pforte. Ferne blieb der Schlummer ihren Lidern, Endlich kam der Schlummer und ein Traum kam. Rings empor an eines Gipfels Abhang Klommen mit erbaulichen Geſängen Pilger auf zum Thor des Paradieſes. Einer klomm voran, ein heil'ger Märtrer, Den die andern grüßten ehrerbietig. In des Thores Wölbung ſtand der Heiland: „Tritt herein! Du haſt für mich geblutet!“ Doch der Pilger weigerte ſich ſtandhaft: „Heiland, laß mich liegen auf der Schwelle, Bis ſie kommt die ſtündlich ich erwarte! Hand in Hand verſenkt und Blick in Blick auch, Tritt ſie, mir geſellt, in Deine Freude, Keine Sarazenin, eine Chriſtin. Solches träumend, ſtürzten ihr die Thränen So gewaltig, daß ſie drob erwachte. Jählings ſpringt ſie auf von ihrem Lager, Fliegt hinab des Hauſes hundert Stufen: Leer und blutbegoſſen lag die Schwelle In des ungebornen Tages Frühlicht. Auf die harte Schwelle kniet ſie nieder,

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/249>, abgerufen am 24.11.2024.