Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Sie raubt das krause Blondgelock Manch einem Edelkinde, Beschert ihm einen schwarzen Rock Und eine blanke Binde. Sie geißelt sich den weißen Leib, Bis rothe Tropfen rinnen, Sie will, das unbarmherz'ge Weib, Den zarten Heiland minnen. Dort sitzt sie unter Lindennacht Am kühlen Klosterbronnen, Sie hat die Bibel mitgebracht Zur Andacht ihrer Nonnen. Am Gatter lauschen Kinder scheu Mit frischgepflückten Veilchen, Ein Weiblein hinkt mit Holz vorbei, Bückt tief sich vor der Heil'gen. Dem jüngsten Nönnchen giebt das Buch Sie jetzt, der lieblich Bleichen: "Wir blieben bei Sankt Pauli Spruch. Sieh her! Da steckt das Zeichen!" Die Zarte, die das Buch empfing,
Beschaut Sankt Paulum denkend. Sie liest. Ihr lauscht der Schwestern Ring, Die Wimper züchtig senkend -- Sie raubt das krauſe Blondgelock Manch einem Edelkinde, Beſchert ihm einen ſchwarzen Rock Und eine blanke Binde. Sie geißelt ſich den weißen Leib, Bis rothe Tropfen rinnen, Sie will, das unbarmherz'ge Weib, Den zarten Heiland minnen. Dort ſitzt ſie unter Lindennacht Am kühlen Kloſterbronnen, Sie hat die Bibel mitgebracht Zur Andacht ihrer Nonnen. Am Gatter lauſchen Kinder ſcheu Mit friſchgepflückten Veilchen, Ein Weiblein hinkt mit Holz vorbei, Bückt tief ſich vor der Heil'gen. Dem jüngſten Nönnchen giebt das Buch Sie jetzt, der lieblich Bleichen: „Wir blieben bei Sankt Pauli Spruch. Sieh her! Da ſteckt das Zeichen!“ Die Zarte, die das Buch empfing,
Beſchaut Sankt Paulum denkend. Sie lieſt. Ihr lauſcht der Schweſtern Ring, Die Wimper züchtig ſenkend — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0278" n="264"/> <lg n="6"> <l>Sie raubt das krauſe Blondgelock</l><lb/> <l>Manch einem Edelkinde,</l><lb/> <l>Beſchert ihm einen ſchwarzen Rock</l><lb/> <l>Und eine blanke Binde.</l><lb/> </lg> <lg n="7"> <l>Sie geißelt ſich den weißen Leib,</l><lb/> <l>Bis rothe Tropfen rinnen,</l><lb/> <l>Sie will, das unbarmherz'ge Weib,</l><lb/> <l>Den zarten Heiland minnen.</l><lb/> </lg> <lg n="8"> <l>Dort ſitzt ſie unter Lindennacht</l><lb/> <l>Am kühlen Kloſterbronnen,</l><lb/> <l>Sie hat die Bibel mitgebracht</l><lb/> <l>Zur Andacht ihrer Nonnen.</l><lb/> </lg> <lg n="9"> <l>Am Gatter lauſchen Kinder ſcheu</l><lb/> <l>Mit friſchgepflückten Veilchen,</l><lb/> <l>Ein Weiblein hinkt mit Holz vorbei,</l><lb/> <l>Bückt tief ſich vor der Heil'gen.</l><lb/> </lg> <lg n="10"> <l>Dem jüngſten Nönnchen giebt das Buch</l><lb/> <l>Sie jetzt, der lieblich Bleichen:</l><lb/> <l>„Wir blieben bei Sankt Pauli Spruch.</l><lb/> <l>Sieh her! Da ſteckt das Zeichen!“</l><lb/> </lg> <lg n="11"> <l>Die Zarte, die das Buch empfing,</l><lb/> <l>Beſchaut Sankt Paulum denkend.</l><lb/> <l>Sie lieſt. Ihr lauſcht der Schweſtern Ring,</l><lb/> <l>Die Wimper züchtig ſenkend —</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [264/0278]
Sie raubt das krauſe Blondgelock
Manch einem Edelkinde,
Beſchert ihm einen ſchwarzen Rock
Und eine blanke Binde.
Sie geißelt ſich den weißen Leib,
Bis rothe Tropfen rinnen,
Sie will, das unbarmherz'ge Weib,
Den zarten Heiland minnen.
Dort ſitzt ſie unter Lindennacht
Am kühlen Kloſterbronnen,
Sie hat die Bibel mitgebracht
Zur Andacht ihrer Nonnen.
Am Gatter lauſchen Kinder ſcheu
Mit friſchgepflückten Veilchen,
Ein Weiblein hinkt mit Holz vorbei,
Bückt tief ſich vor der Heil'gen.
Dem jüngſten Nönnchen giebt das Buch
Sie jetzt, der lieblich Bleichen:
„Wir blieben bei Sankt Pauli Spruch.
Sieh her! Da ſteckt das Zeichen!“
Die Zarte, die das Buch empfing,
Beſchaut Sankt Paulum denkend.
Sie lieſt. Ihr lauſcht der Schweſtern Ring,
Die Wimper züchtig ſenkend —
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