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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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nicht, seine Todte, deren stilles sanftes Haupt wie ge¬
knickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte sie nicht
auf der Mordstätte zurücklassen. Waser konnte trotz der
Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von diesem
Nachtbilde sprachlosen Grimms und unversöhnlicher
Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken,
der eine unschuldige Seele durch die Flammen trägt.
Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel
des Schreckens.

Indeß die Bündner durch den Garten nach dem
Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der
Küche neben Feuer und Rauch standhaft den Augenblick
erwartet, wo die Thüre in Splitter flog. Jetzt sprang er,
das Crucifix in der vorgestreckten Rechten, zwischen die
Pfosten und rief der blutlechzenden Menge entgegen:

"Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern
verbrennen? . . . Feuer vom Himmel hat sie verzehrt!
Löschet! Rettet euer Dorf! . ." Und hinter ihm prasselte
die lebendige Gluth.

Mit einem Wehgeheul, das nichts Menschliches
mehr hatte, wichen die Entsetzten zurück und es entstand
eine unbeschreibliche Verwirrung. Blitzschnell verbreitete
sich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Person habe
die Ketzer im protestantischen Pfarrhause vernichtet und
sei in erhabener Gestalt den Gläubigen erschienen.

nicht, ſeine Todte, deren ſtilles ſanftes Haupt wie ge¬
knickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte ſie nicht
auf der Mordſtätte zurücklaſſen. Waſer konnte trotz der
Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von dieſem
Nachtbilde ſprachloſen Grimms und unverſöhnlicher
Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken,
der eine unſchuldige Seele durch die Flammen trägt.
Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel
des Schreckens.

Indeß die Bündner durch den Garten nach dem
Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der
Küche neben Feuer und Rauch ſtandhaft den Augenblick
erwartet, wo die Thüre in Splitter flog. Jetzt ſprang er,
das Crucifix in der vorgeſtreckten Rechten, zwiſchen die
Pfoſten und rief der blutlechzenden Menge entgegen:

„Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern
verbrennen? . . . Feuer vom Himmel hat ſie verzehrt!
Löſchet! Rettet euer Dorf! . .“ Und hinter ihm praſſelte
die lebendige Gluth.

Mit einem Wehgeheul, das nichts Menſchliches
mehr hatte, wichen die Entſetzten zurück und es entſtand
eine unbeſchreibliche Verwirrung. Blitzſchnell verbreitete
ſich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Perſon habe
die Ketzer im proteſtantiſchen Pfarrhauſe vernichtet und
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[95/0105] nicht, ſeine Todte, deren ſtilles ſanftes Haupt wie ge¬ knickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte ſie nicht auf der Mordſtätte zurücklaſſen. Waſer konnte trotz der Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von dieſem Nachtbilde ſprachloſen Grimms und unverſöhnlicher Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken, der eine unſchuldige Seele durch die Flammen trägt. Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel des Schreckens. Indeß die Bündner durch den Garten nach dem Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der Küche neben Feuer und Rauch ſtandhaft den Augenblick erwartet, wo die Thüre in Splitter flog. Jetzt ſprang er, das Crucifix in der vorgeſtreckten Rechten, zwiſchen die Pfoſten und rief der blutlechzenden Menge entgegen: „Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern verbrennen? . . . Feuer vom Himmel hat ſie verzehrt! Löſchet! Rettet euer Dorf! . .“ Und hinter ihm praſſelte die lebendige Gluth. Mit einem Wehgeheul, das nichts Menſchliches mehr hatte, wichen die Entſetzten zurück und es entſtand eine unbeſchreibliche Verwirrung. Blitzſchnell verbreitete ſich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Perſon habe die Ketzer im proteſtantiſchen Pfarrhauſe vernichtet und ſei in erhabener Geſtalt den Gläubigen erſchienen.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/105>, abgerufen am 22.11.2024.