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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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gann eifrig die beiden ehrwürdigen Trümmer auf ein
weißes Blatt zu zeichnen. Nach einer Weile betrachtete
er seiner Hände Werk mit Befriedigung, legte das auf¬
geschlagene Büchlein sorgfältig auf sein Felleisen, griff
nach seinem Stocke, woran die Zeichen verschiedener
Maße eingekerbt waren, ließ sich auf ein Knie nieder
und nahm mit Genauigkeit das Maß der merkwürdigen
Säulen.

"Fünfthalb Fuß hoch," sagte er vor sich hin.

"Was treibt Ihr da? Spionage?" ertönte neben
ihm eine gewaltige Baßstimme.

Jäh sprang der in seiner stillen Beschäftigung
Gestörte empor und stand vor einem Graubarte in grober
Diensttracht, der seine blitzenden Augen feindselig auf
ihn richtete.

Unerschrocken stellte sich der junge Reisende dem
wie aus dem Boden Gestiegenen mit vorgesetztem Fuße
entgegen und begann, die Hand in die Seite stemmend,
in fließender, gewandter Rede:

"Wer seid denn Ihr, der sich herausnimmt, meine
gelehrte Forschung anzufechten auf Bündnerboden, id est
in einem Lande, das mit meiner Stadt und Republik
Zürich durch wiederholte, feierlichst beschworene Bünd¬
nisse befreundet ist? Ich weise Euern beleidigenden
Verdacht mit Verachtung zurück. Wollt Ihr mir den

gann eifrig die beiden ehrwürdigen Trümmer auf ein
weißes Blatt zu zeichnen. Nach einer Weile betrachtete
er ſeiner Hände Werk mit Befriedigung, legte das auf¬
geſchlagene Büchlein ſorgfältig auf ſein Felleiſen, griff
nach ſeinem Stocke, woran die Zeichen verſchiedener
Maße eingekerbt waren, ließ ſich auf ein Knie nieder
und nahm mit Genauigkeit das Maß der merkwürdigen
Säulen.

„Fünfthalb Fuß hoch,“ ſagte er vor ſich hin.

„Was treibt Ihr da? Spionage?“ ertönte neben
ihm eine gewaltige Baßſtimme.

Jäh ſprang der in ſeiner ſtillen Beſchäftigung
Geſtörte empor und ſtand vor einem Graubarte in grober
Dienſttracht, der ſeine blitzenden Augen feindſelig auf
ihn richtete.

Unerſchrocken ſtellte ſich der junge Reiſende dem
wie aus dem Boden Geſtiegenen mit vorgeſetztem Fuße
entgegen und begann, die Hand in die Seite ſtemmend,
in fließender, gewandter Rede:

„Wer ſeid denn Ihr, der ſich herausnimmt, meine
gelehrte Forſchung anzufechten auf Bündnerboden, id est
in einem Lande, das mit meiner Stadt und Republik
Zürich durch wiederholte, feierlichſt beſchworene Bünd¬
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[6/0016] gann eifrig die beiden ehrwürdigen Trümmer auf ein weißes Blatt zu zeichnen. Nach einer Weile betrachtete er ſeiner Hände Werk mit Befriedigung, legte das auf¬ geſchlagene Büchlein ſorgfältig auf ſein Felleiſen, griff nach ſeinem Stocke, woran die Zeichen verſchiedener Maße eingekerbt waren, ließ ſich auf ein Knie nieder und nahm mit Genauigkeit das Maß der merkwürdigen Säulen. „Fünfthalb Fuß hoch,“ ſagte er vor ſich hin. „Was treibt Ihr da? Spionage?“ ertönte neben ihm eine gewaltige Baßſtimme. Jäh ſprang der in ſeiner ſtillen Beſchäftigung Geſtörte empor und ſtand vor einem Graubarte in grober Dienſttracht, der ſeine blitzenden Augen feindſelig auf ihn richtete. Unerſchrocken ſtellte ſich der junge Reiſende dem wie aus dem Boden Geſtiegenen mit vorgeſetztem Fuße entgegen und begann, die Hand in die Seite ſtemmend, in fließender, gewandter Rede: „Wer ſeid denn Ihr, der ſich herausnimmt, meine gelehrte Forſchung anzufechten auf Bündnerboden, id est in einem Lande, das mit meiner Stadt und Republik Zürich durch wiederholte, feierlichſt beſchworene Bünd¬ niſſe befreundet iſt? Ich weiſe Euern beleidigenden Verdacht mit Verachtung zurück. Wollt Ihr mir den

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/16>, abgerufen am 21.11.2024.