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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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nigen bis zur Raserei zu reizen und als geschickter
Fechter den Degen so zu führen, daß Keiner den sichern
leisen Todesstoß gewahr wurde. -- So trug die Sache
sich zu, mein braver Herr, wenn die Republik nicht
einen menschenunkundigen Neuling zu ihrem Provvedi¬
tore hat. Euer Signor Jenatsch hat bei seiner dal¬
matischen Sendung zehnmal mehr List aufgewendet, als
es nicht brauchte, diesen armen Trunkenbold sich aus
dem Wege zu räumen."

Waser hatte diese Auseinandersetzung mit Grauen
angehört. Ihn fröstelte beim Gedanken an die Gefahr,
die jedem Angeklagten aus dieser scharfsinnig argwöhni¬
schen Auslegung an sich unverfänglicher Thatsachen er¬
wachsen mußte. Sogar ihn, den wohlwollenden, dem
Hauptmann befreundeten Mann, durchfuhr einen Augen¬
blick der Gedanke, des Venetianers grausame Logik
könnte Recht haben. Aber sein gerader Menschenver¬
stand und sein rechtliches Gemüth überwanden rasch
diesen beängstigenden Schwindel. So hätte es sein
können; aber, nein, es war nicht so. -- Er erinnerte
sich indessen, daß der Argwohn in Venedig ein Staats¬
princip sei und verzichtete darauf, in diesem Augenblicke
Grimanis Voreingenommenheit zu bekämpfen.

"Die Thatsachen entscheiden," sagte er mit über¬
zeugter Festigkeit, "nicht deren willkürliche Interpretation,

nigen bis zur Raſerei zu reizen und als geſchickter
Fechter den Degen ſo zu führen, daß Keiner den ſichern
leiſen Todesſtoß gewahr wurde. — So trug die Sache
ſich zu, mein braver Herr, wenn die Republik nicht
einen menſchenunkundigen Neuling zu ihrem Provvedi¬
tore hat. Euer Signor Jenatſch hat bei ſeiner dal¬
matiſchen Sendung zehnmal mehr Liſt aufgewendet, als
es nicht brauchte, dieſen armen Trunkenbold ſich aus
dem Wege zu räumen.“

Waſer hatte dieſe Auseinanderſetzung mit Grauen
angehört. Ihn fröſtelte beim Gedanken an die Gefahr,
die jedem Angeklagten aus dieſer ſcharfſinnig argwöhni¬
ſchen Auslegung an ſich unverfänglicher Thatſachen er¬
wachſen mußte. Sogar ihn, den wohlwollenden, dem
Hauptmann befreundeten Mann, durchfuhr einen Augen¬
blick der Gedanke, des Venetianers grauſame Logik
könnte Recht haben. Aber ſein gerader Menſchenver¬
ſtand und ſein rechtliches Gemüth überwanden raſch
dieſen beängſtigenden Schwindel. So hätte es ſein
können; aber, nein, es war nicht ſo. — Er erinnerte
ſich indeſſen, daß der Argwohn in Venedig ein Staats¬
princip ſei und verzichtete darauf, in dieſem Augenblicke
Grimanis Voreingenommenheit zu bekämpfen.

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zeugter Feſtigkeit, „nicht deren willkürliche Interpretation,

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[194/0204] nigen bis zur Raſerei zu reizen und als geſchickter Fechter den Degen ſo zu führen, daß Keiner den ſichern leiſen Todesſtoß gewahr wurde. — So trug die Sache ſich zu, mein braver Herr, wenn die Republik nicht einen menſchenunkundigen Neuling zu ihrem Provvedi¬ tore hat. Euer Signor Jenatſch hat bei ſeiner dal¬ matiſchen Sendung zehnmal mehr Liſt aufgewendet, als es nicht brauchte, dieſen armen Trunkenbold ſich aus dem Wege zu räumen.“ Waſer hatte dieſe Auseinanderſetzung mit Grauen angehört. Ihn fröſtelte beim Gedanken an die Gefahr, die jedem Angeklagten aus dieſer ſcharfſinnig argwöhni¬ ſchen Auslegung an ſich unverfänglicher Thatſachen er¬ wachſen mußte. Sogar ihn, den wohlwollenden, dem Hauptmann befreundeten Mann, durchfuhr einen Augen¬ blick der Gedanke, des Venetianers grauſame Logik könnte Recht haben. Aber ſein gerader Menſchenver¬ ſtand und ſein rechtliches Gemüth überwanden raſch dieſen beängſtigenden Schwindel. So hätte es ſein können; aber, nein, es war nicht ſo. — Er erinnerte ſich indeſſen, daß der Argwohn in Venedig ein Staats¬ princip ſei und verzichtete darauf, in dieſem Augenblicke Grimanis Voreingenommenheit zu bekämpfen. „Die Thatſachen entſcheiden,“ ſagte er mit über¬ zeugter Feſtigkeit, „nicht deren willkürliche Interpretation,

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/204>, abgerufen am 23.11.2024.