tritt mit laut klopfendem Herzen angesehen. Konnte sie Georg retten? Wollte, durfte sie es? . . Hinter ihr stand Wertmüller, dessen angriffslustige Ungeduld sie fühlte, und den sie leise den Hahn seines Pistols spannen hörte. Lucretia erhob sich und schritt, von einer un¬ widerstehlichen Macht gezogen, langsam vor. Bei des Spaniers letzten Worten stand sie zwischen ihm und dem an einen steinernen Stützpfeiler der Laube ge¬ schnürten Gefangenen. In diesem Augenblicke flog eine Handvoll Koth und Steine von einer lachenden Kropf¬ gestalt geworfen an die blutende Stirne des Gefesselten, aber seine Miene blieb stolz und ruhig, nur seine Lippen bewegten sich flüsternd: "Lucretia, deine Rache vollzieht sich!" klang es in romanischen Lauten, ohne daß sein Blick sich nach ihr gewendet hätte.
"Sennor," redete die Bündnerin den spanischen Hauptmann mit fester Stimme an, "ich bin Lucretia, die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatsch erschla¬ gen hat. Ich habe seit dem Tode meines Vaters keinen liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in diesem Manne hier erkenne ich den Mörder meines Vaters nicht."
Der Spanier richtete seinen bösen Blick erst fra¬ gend und dann höhnisch auf sie, aber Lucretia beachtete ihn nicht. Schon hielt sie ihren kleinen Reisedolch in
tritt mit laut klopfendem Herzen angeſehen. Konnte ſie Georg retten? Wollte, durfte ſie es? . . Hinter ihr ſtand Wertmüller, deſſen angriffsluſtige Ungeduld ſie fühlte, und den ſie leiſe den Hahn ſeines Piſtols ſpannen hörte. Lucretia erhob ſich und ſchritt, von einer un¬ widerſtehlichen Macht gezogen, langſam vor. Bei des Spaniers letzten Worten ſtand ſie zwiſchen ihm und dem an einen ſteinernen Stützpfeiler der Laube ge¬ ſchnürten Gefangenen. In dieſem Augenblicke flog eine Handvoll Koth und Steine von einer lachenden Kropf¬ geſtalt geworfen an die blutende Stirne des Gefeſſelten, aber ſeine Miene blieb ſtolz und ruhig, nur ſeine Lippen bewegten ſich flüſternd: „Lucretia, deine Rache vollzieht ſich!“ klang es in romaniſchen Lauten, ohne daß ſein Blick ſich nach ihr gewendet hätte.
„Sennor,“ redete die Bündnerin den ſpaniſchen Hauptmann mit feſter Stimme an, „ich bin Lucretia, die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatſch erſchla¬ gen hat. Ich habe ſeit dem Tode meines Vaters keinen liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in dieſem Manne hier erkenne ich den Mörder meines Vaters nicht.“
Der Spanier richtete ſeinen böſen Blick erſt fra¬ gend und dann höhniſch auf ſie, aber Lucretia beachtete ihn nicht. Schon hielt ſie ihren kleinen Reiſedolch in
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0232"n="222"/>
tritt mit laut klopfendem Herzen angeſehen. Konnte ſie<lb/>
Georg retten? Wollte, durfte ſie es? . . Hinter ihr<lb/>ſtand Wertmüller, deſſen angriffsluſtige Ungeduld ſie<lb/>
fühlte, und den ſie leiſe den Hahn ſeines Piſtols ſpannen<lb/>
hörte. Lucretia erhob ſich und ſchritt, von einer un¬<lb/>
widerſtehlichen Macht gezogen, langſam vor. Bei des<lb/>
Spaniers letzten Worten ſtand ſie zwiſchen ihm und<lb/>
dem an einen ſteinernen Stützpfeiler der Laube ge¬<lb/>ſchnürten Gefangenen. In dieſem Augenblicke flog eine<lb/>
Handvoll Koth und Steine von einer lachenden Kropf¬<lb/>
geſtalt geworfen an die blutende Stirne des Gefeſſelten,<lb/>
aber ſeine Miene blieb ſtolz und ruhig, nur ſeine Lippen<lb/>
bewegten ſich flüſternd: „Lucretia, deine Rache vollzieht<lb/>ſich!“ klang es in romaniſchen Lauten, ohne daß ſein<lb/>
Blick ſich nach ihr gewendet hätte.</p><lb/><p>„Sennor,“ redete die Bündnerin den ſpaniſchen<lb/>
Hauptmann mit feſter Stimme an, „ich bin Lucretia,<lb/>
die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatſch erſchla¬<lb/>
gen hat. Ich habe ſeit dem Tode meines Vaters keinen<lb/>
liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in<lb/>
dieſem Manne hier erkenne ich den Mörder meines<lb/>
Vaters nicht.“</p><lb/><p>Der Spanier richtete ſeinen böſen Blick erſt fra¬<lb/>
gend und dann höhniſch auf ſie, aber Lucretia beachtete<lb/>
ihn nicht. Schon hielt ſie ihren kleinen Reiſedolch in<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[222/0232]
tritt mit laut klopfendem Herzen angeſehen. Konnte ſie
Georg retten? Wollte, durfte ſie es? . . Hinter ihr
ſtand Wertmüller, deſſen angriffsluſtige Ungeduld ſie
fühlte, und den ſie leiſe den Hahn ſeines Piſtols ſpannen
hörte. Lucretia erhob ſich und ſchritt, von einer un¬
widerſtehlichen Macht gezogen, langſam vor. Bei des
Spaniers letzten Worten ſtand ſie zwiſchen ihm und
dem an einen ſteinernen Stützpfeiler der Laube ge¬
ſchnürten Gefangenen. In dieſem Augenblicke flog eine
Handvoll Koth und Steine von einer lachenden Kropf¬
geſtalt geworfen an die blutende Stirne des Gefeſſelten,
aber ſeine Miene blieb ſtolz und ruhig, nur ſeine Lippen
bewegten ſich flüſternd: „Lucretia, deine Rache vollzieht
ſich!“ klang es in romaniſchen Lauten, ohne daß ſein
Blick ſich nach ihr gewendet hätte.
„Sennor,“ redete die Bündnerin den ſpaniſchen
Hauptmann mit feſter Stimme an, „ich bin Lucretia,
die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatſch erſchla¬
gen hat. Ich habe ſeit dem Tode meines Vaters keinen
liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in
dieſem Manne hier erkenne ich den Mörder meines
Vaters nicht.“
Der Spanier richtete ſeinen böſen Blick erſt fra¬
gend und dann höhniſch auf ſie, aber Lucretia beachtete
ihn nicht. Schon hielt ſie ihren kleinen Reiſedolch in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/232>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.