Gegen Morgen erhob sich der Föhn von neuem mit heulender Wuth, wie er nach der oft wiederholten Erzählung des alten Knechtes in jener Nacht getobt, als ihr Vater erschlagen wurde. Sie fiel in einen unruhigen Schlummer, aus welchem sie, von den Ge¬ räuschen des Sturmes geweckt, immer wieder emporfuhr.
Ein Traum führte sie in die Todesstunde ihres Vaters. Sie sah ihn -- groß und blutig lag er hin¬ gestreckt und jammernd wollte sie sich über ihn werfen -- aber die Leiche verschwand, sie stand allein und hielt das geröthete Beil in der Hand, während sie die Rosse der Mörder mit stampfenden Hufen enteilen hörte. Ein neuer Windstoß rüttelte am Thurme und ließ die Fensterscheiben des Gemaches in ihrer Blei¬ fassung erklirren. Lucretia erwachte.
Im Hofe hörte sie Pferdegetrappel und das Knarren des sich öffnenden Thors. Sie eilte ans Fenster und sah in der stürmischen Morgendämmerung zwei Pferde wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters. Erstaunt ließ sie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf dem Schlosse, sondern mit Herrn Rudolf nach Chur verritten, dessen Gefolge, wie ihr gesagt wurde, Befehl erhalten hatte, später aufzubrechen, um zur Mittags¬ zeit mit dem Herrn in der Schenke zum staubigen Hüttlein bei Chur zusammenzutreffen.
Gegen Morgen erhob ſich der Föhn von neuem mit heulender Wuth, wie er nach der oft wiederholten Erzählung des alten Knechtes in jener Nacht getobt, als ihr Vater erſchlagen wurde. Sie fiel in einen unruhigen Schlummer, aus welchem ſie, von den Ge¬ räuſchen des Sturmes geweckt, immer wieder emporfuhr.
Ein Traum führte ſie in die Todesſtunde ihres Vaters. Sie ſah ihn — groß und blutig lag er hin¬ geſtreckt und jammernd wollte ſie ſich über ihn werfen — aber die Leiche verſchwand, ſie ſtand allein und hielt das geröthete Beil in der Hand, während ſie die Roſſe der Mörder mit ſtampfenden Hufen enteilen hörte. Ein neuer Windſtoß rüttelte am Thurme und ließ die Fenſterſcheiben des Gemaches in ihrer Blei¬ faſſung erklirren. Lucretia erwachte.
Im Hofe hörte ſie Pferdegetrappel und das Knarren des ſich öffnenden Thors. Sie eilte ans Fenſter und ſah in der ſtürmiſchen Morgendämmerung zwei Pferde wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters. Erſtaunt ließ ſie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf dem Schloſſe, ſondern mit Herrn Rudolf nach Chur verritten, deſſen Gefolge, wie ihr geſagt wurde, Befehl erhalten hatte, ſpäter aufzubrechen, um zur Mittags¬ zeit mit dem Herrn in der Schenke zum ſtaubigen Hüttlein bei Chur zuſammenzutreffen.
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Gegen Morgen erhob ſich der Föhn von neuem
mit heulender Wuth, wie er nach der oft wiederholten
Erzählung des alten Knechtes in jener Nacht getobt,
als ihr Vater erſchlagen wurde. Sie fiel in einen
unruhigen Schlummer, aus welchem ſie, von den Ge¬
räuſchen des Sturmes geweckt, immer wieder emporfuhr.
Ein Traum führte ſie in die Todesſtunde ihres
Vaters. Sie ſah ihn — groß und blutig lag er hin¬
geſtreckt und jammernd wollte ſie ſich über ihn werfen
— aber die Leiche verſchwand, ſie ſtand allein und
hielt das geröthete Beil in der Hand, während ſie die
Roſſe der Mörder mit ſtampfenden Hufen enteilen
hörte. Ein neuer Windſtoß rüttelte am Thurme und
ließ die Fenſterſcheiben des Gemaches in ihrer Blei¬
faſſung erklirren. Lucretia erwachte.
Im Hofe hörte ſie Pferdegetrappel und das Knarren
des ſich öffnenden Thors. Sie eilte ans Fenſter und
ſah in der ſtürmiſchen Morgendämmerung zwei Pferde
wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters.
Erſtaunt ließ ſie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf
dem Schloſſe, ſondern mit Herrn Rudolf nach Chur
verritten, deſſen Gefolge, wie ihr geſagt wurde, Befehl
erhalten hatte, ſpäter aufzubrechen, um zur Mittags¬
zeit mit dem Herrn in der Schenke zum ſtaubigen
Hüttlein bei Chur zuſammenzutreffen.
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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/378>, abgerufen am 22.11.2024.
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