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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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auf eine vor ihnen liegende Kirche, "-- der Wächter
hat es wohl gehört und ist vor Schrecken krank gewor¬
den -- sie haben scharf gestritten . . . aber unser San
Carlo, dessen Stimme zwanzig gilt, ist Meister ge¬
worden."

Nicht bemerkend, wie spöttisch ihn sein Begleiter
von der Seite aus lachenden Augenwinkeln ansah, that
er jetzt, was er unterwegs schon immer gethan, wo ein
Kreuz oder Heiligenbild am Pfade stand, er setzte, vor
einem bunten Schreine der Muttergottes angelangt,
seinen Tragkorb nieder, warf sich auf die Kniee und
starrte mit brennenden Augen durch das Gitter.

"Saht Ihr, wie sie mir winkte?" sagte er nach
einiger Zeit im Weitergehen wie geistesabwesend.

"Ja wohl," meinte der Zürcher lustig, "Ihr scheint
bei ihr gut angeschrieben zu sein. An was hat sie Euch
denn erinnert?"

"Meine Schwester umzubringen!" erwiderte er mit
einem schweren Seufzer.

Das war dem jungen Zürcher zu viel. "Lebt
wohl, Agostino," sagte er. "Auf meiner Karte steht
ein Seitenweg nach Berbenn, da ist er ja schon, nicht
wahr? Ich kann abkürzen." Und er drückte dem leidigen
Gesellen ein Geldstück in die Hand.

Waser wandte sich zwischen den Mauern der Wein¬

auf eine vor ihnen liegende Kirche, „— der Wächter
hat es wohl gehört und iſt vor Schrecken krank gewor¬
den — ſie haben ſcharf geſtritten . . . aber unſer San
Carlo, deſſen Stimme zwanzig gilt, iſt Meiſter ge¬
worden.“

Nicht bemerkend, wie ſpöttiſch ihn ſein Begleiter
von der Seite aus lachenden Augenwinkeln anſah, that
er jetzt, was er unterwegs ſchon immer gethan, wo ein
Kreuz oder Heiligenbild am Pfade ſtand, er ſetzte, vor
einem bunten Schreine der Muttergottes angelangt,
ſeinen Tragkorb nieder, warf ſich auf die Kniee und
ſtarrte mit brennenden Augen durch das Gitter.

„Saht Ihr, wie ſie mir winkte?“ ſagte er nach
einiger Zeit im Weitergehen wie geiſtesabweſend.

„Ja wohl,“ meinte der Zürcher luſtig, „Ihr ſcheint
bei ihr gut angeſchrieben zu ſein. An was hat ſie Euch
denn erinnert?“

„Meine Schweſter umzubringen!“ erwiderte er mit
einem ſchweren Seufzer.

Das war dem jungen Zürcher zu viel. „Lebt
wohl, Agoſtino,“ ſagte er. „Auf meiner Karte ſteht
ein Seitenweg nach Berbenn, da iſt er ja ſchon, nicht
wahr? Ich kann abkürzen.“ Und er drückte dem leidigen
Geſellen ein Geldſtück in die Hand.

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[45/0055] auf eine vor ihnen liegende Kirche, „— der Wächter hat es wohl gehört und iſt vor Schrecken krank gewor¬ den — ſie haben ſcharf geſtritten . . . aber unſer San Carlo, deſſen Stimme zwanzig gilt, iſt Meiſter ge¬ worden.“ Nicht bemerkend, wie ſpöttiſch ihn ſein Begleiter von der Seite aus lachenden Augenwinkeln anſah, that er jetzt, was er unterwegs ſchon immer gethan, wo ein Kreuz oder Heiligenbild am Pfade ſtand, er ſetzte, vor einem bunten Schreine der Muttergottes angelangt, ſeinen Tragkorb nieder, warf ſich auf die Kniee und ſtarrte mit brennenden Augen durch das Gitter. „Saht Ihr, wie ſie mir winkte?“ ſagte er nach einiger Zeit im Weitergehen wie geiſtesabweſend. „Ja wohl,“ meinte der Zürcher luſtig, „Ihr ſcheint bei ihr gut angeſchrieben zu ſein. An was hat ſie Euch denn erinnert?“ „Meine Schweſter umzubringen!“ erwiderte er mit einem ſchweren Seufzer. Das war dem jungen Zürcher zu viel. „Lebt wohl, Agoſtino,“ ſagte er. „Auf meiner Karte ſteht ein Seitenweg nach Berbenn, da iſt er ja ſchon, nicht wahr? Ich kann abkürzen.“ Und er drückte dem leidigen Geſellen ein Geldſtück in die Hand. Waſer wandte ſich zwiſchen den Mauern der Wein¬

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/55>, abgerufen am 24.11.2024.