Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Um einen halben Kopf kleiner als der Alte, die Gliedmaßen zart, das Gesicht hübsch und zierlich, die Farbe hell, die ganze Person leicht und fein, schien er von dem Starken nichts geerbt zu haben, als das Selbstgefühl, das bei ihm aber einen vorherrschend mädchenhaften Charakter annahm. Er war ein guter, ein ungewöhnlich guter Mensch, unser Tobias, wohlmeinend gegen alle Welt, und begriff nicht, wie man ein Vergnügen daran haben könne, Andere ohne Noth zu vexiren und zu plagen. Von Natur leicht erregbar und phantasiebegabt, konnte er unschwer seine Fassung verlieren, desgleichen in jene Gemüthslage kommen, wo einem nach dem Rieser Ausdruck "alle seine Sünden einfallen." Er pflegte sich dann nicht besonders aus der Affaire zu ziehen und sich über sein Mißgeschick, auch über seine Dummheit, bedeutend zu ärgern, bis ihn sein leichtes Blut, Alles wieder vergessen ließ. Sein Element war der Friede, und im Frieden glücklich zu sein, hatte er alle Eigenschaften. Leider besaß er aber auch ein paar, die recht darnach angethan waren, seine Ruhe zu stören und ihn in die Aufregung und Unlust des Kampfes zu verwickeln.

Wer die Menschen kennt, der weiß, daß man eigentlich nur auffallend gutmüthig zu sein braucht, um den Geist der Bosheit gegen sich in Bewegung zu setzen. Ist der Gutmüthige noch selbstgefällig und empfindlich, dann ist das Maß der Anziehungskraft voll, und es scheint, als ob Niemand ein anderes Geschäft hätte, als

Um einen halben Kopf kleiner als der Alte, die Gliedmaßen zart, das Gesicht hübsch und zierlich, die Farbe hell, die ganze Person leicht und fein, schien er von dem Starken nichts geerbt zu haben, als das Selbstgefühl, das bei ihm aber einen vorherrschend mädchenhaften Charakter annahm. Er war ein guter, ein ungewöhnlich guter Mensch, unser Tobias, wohlmeinend gegen alle Welt, und begriff nicht, wie man ein Vergnügen daran haben könne, Andere ohne Noth zu vexiren und zu plagen. Von Natur leicht erregbar und phantasiebegabt, konnte er unschwer seine Fassung verlieren, desgleichen in jene Gemüthslage kommen, wo einem nach dem Rieser Ausdruck „alle seine Sünden einfallen.“ Er pflegte sich dann nicht besonders aus der Affaire zu ziehen und sich über sein Mißgeschick, auch über seine Dummheit, bedeutend zu ärgern, bis ihn sein leichtes Blut, Alles wieder vergessen ließ. Sein Element war der Friede, und im Frieden glücklich zu sein, hatte er alle Eigenschaften. Leider besaß er aber auch ein paar, die recht darnach angethan waren, seine Ruhe zu stören und ihn in die Aufregung und Unlust des Kampfes zu verwickeln.

Wer die Menschen kennt, der weiß, daß man eigentlich nur auffallend gutmüthig zu sein braucht, um den Geist der Bosheit gegen sich in Bewegung zu setzen. Ist der Gutmüthige noch selbstgefällig und empfindlich, dann ist das Maß der Anziehungskraft voll, und es scheint, als ob Niemand ein anderes Geschäft hätte, als

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0013"/>
Um einen halben Kopf kleiner als der Alte, die Gliedmaßen zart, das Gesicht hübsch und      zierlich, die Farbe hell, die ganze Person leicht und fein, schien er von dem Starken nichts      geerbt zu haben, als das Selbstgefühl, das bei ihm aber einen vorherrschend mädchenhaften      Charakter annahm. Er war ein guter, ein ungewöhnlich guter Mensch, unser Tobias, wohlmeinend      gegen alle Welt, und begriff nicht, wie man ein Vergnügen daran haben könne, Andere ohne Noth      zu vexiren und zu plagen. Von Natur leicht erregbar und phantasiebegabt, konnte er unschwer      seine Fassung verlieren, desgleichen in jene Gemüthslage kommen, wo einem nach dem Rieser      Ausdruck &#x201E;alle seine Sünden einfallen.&#x201C; Er pflegte sich dann nicht besonders aus der Affaire zu      ziehen und sich über sein Mißgeschick, auch über seine Dummheit, bedeutend zu ärgern, bis ihn      sein leichtes Blut, Alles wieder vergessen ließ. Sein Element war der Friede, und im Frieden      glücklich zu sein, hatte er alle Eigenschaften. Leider besaß er aber auch ein paar, die recht      darnach angethan waren, seine Ruhe zu stören und ihn in die Aufregung und Unlust des Kampfes zu      verwickeln.</p><lb/>
        <p>Wer die Menschen kennt, der weiß, daß man eigentlich nur auffallend gutmüthig zu sein      braucht, um den Geist der Bosheit gegen sich in Bewegung zu setzen. Ist der Gutmüthige noch      selbstgefällig und empfindlich, dann ist das Maß der Anziehungskraft voll, und es scheint, als      ob Niemand ein anderes Geschäft hätte, als<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0013] Um einen halben Kopf kleiner als der Alte, die Gliedmaßen zart, das Gesicht hübsch und zierlich, die Farbe hell, die ganze Person leicht und fein, schien er von dem Starken nichts geerbt zu haben, als das Selbstgefühl, das bei ihm aber einen vorherrschend mädchenhaften Charakter annahm. Er war ein guter, ein ungewöhnlich guter Mensch, unser Tobias, wohlmeinend gegen alle Welt, und begriff nicht, wie man ein Vergnügen daran haben könne, Andere ohne Noth zu vexiren und zu plagen. Von Natur leicht erregbar und phantasiebegabt, konnte er unschwer seine Fassung verlieren, desgleichen in jene Gemüthslage kommen, wo einem nach dem Rieser Ausdruck „alle seine Sünden einfallen.“ Er pflegte sich dann nicht besonders aus der Affaire zu ziehen und sich über sein Mißgeschick, auch über seine Dummheit, bedeutend zu ärgern, bis ihn sein leichtes Blut, Alles wieder vergessen ließ. Sein Element war der Friede, und im Frieden glücklich zu sein, hatte er alle Eigenschaften. Leider besaß er aber auch ein paar, die recht darnach angethan waren, seine Ruhe zu stören und ihn in die Aufregung und Unlust des Kampfes zu verwickeln. Wer die Menschen kennt, der weiß, daß man eigentlich nur auffallend gutmüthig zu sein braucht, um den Geist der Bosheit gegen sich in Bewegung zu setzen. Ist der Gutmüthige noch selbstgefällig und empfindlich, dann ist das Maß der Anziehungskraft voll, und es scheint, als ob Niemand ein anderes Geschäft hätte, als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/13
Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/13>, abgerufen am 22.12.2024.