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Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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selten Leute über die Gasse gehen, und diese nicht im vortheilhaftesten Aufzug; Weiber, die den veralteten Oberrock wie eine Kapuze über den Kopf gezogen haben, Männer in abgebleichtem Zwilchkittel und bräunlich gewordenem Schaufelhut. Die grauschmutzigen Wege und Plätze mit größern und kleinern Regenlachen gewähren kein sehr erfreuliches Bild, und das regelmäßige Prasseln und "Pflatschen" macht auf die Dauer einen kaum anders als langweilig zu nennenden Eindruck. Glücklich diejenigen, die ihr Vergnügen nicht außen zu suchen haben, sondern in sich selbst und bei den Ihrigen finden! Solchen freilich klingt der fallende Regen wie Musik, und das bescheiden graue Tageslicht thut ihren Augen wohl; denn wer bei sich selbst daheim ist, dem wird Alles heimlich.

Unser Bursche saß am Schneidertisch und nähte. Er war nicht glücklich; aber infolge des gefaßten Entschlusses und des Abschlusses mit der Welt hatte doch eine gewisse Zufriedenheit in ihm Platz genommen. Der dunkle Himmel und das eintönige Geprassel harmonirten mit seiner Stimmung und schufen ihm ein düsteres Behagen. Ergebung und Hoffnung erfüllten sein Herz; er wußte, was er zu thun hatte, und brauchte sich darum auch nicht zu eilen, sondern konnte sich vorderhand noch ganz ruhig gehen lassen. Zuweilen sah er von seiner Arbeit auf und betrachtete gedankenvoll die herabstürzenden Tropfen, die ihn wie ein bewegtes Gitter von der Außenwelt schieden und einfriedigten.

selten Leute über die Gasse gehen, und diese nicht im vortheilhaftesten Aufzug; Weiber, die den veralteten Oberrock wie eine Kapuze über den Kopf gezogen haben, Männer in abgebleichtem Zwilchkittel und bräunlich gewordenem Schaufelhut. Die grauschmutzigen Wege und Plätze mit größern und kleinern Regenlachen gewähren kein sehr erfreuliches Bild, und das regelmäßige Prasseln und „Pflatschen“ macht auf die Dauer einen kaum anders als langweilig zu nennenden Eindruck. Glücklich diejenigen, die ihr Vergnügen nicht außen zu suchen haben, sondern in sich selbst und bei den Ihrigen finden! Solchen freilich klingt der fallende Regen wie Musik, und das bescheiden graue Tageslicht thut ihren Augen wohl; denn wer bei sich selbst daheim ist, dem wird Alles heimlich.

Unser Bursche saß am Schneidertisch und nähte. Er war nicht glücklich; aber infolge des gefaßten Entschlusses und des Abschlusses mit der Welt hatte doch eine gewisse Zufriedenheit in ihm Platz genommen. Der dunkle Himmel und das eintönige Geprassel harmonirten mit seiner Stimmung und schufen ihm ein düsteres Behagen. Ergebung und Hoffnung erfüllten sein Herz; er wußte, was er zu thun hatte, und brauchte sich darum auch nicht zu eilen, sondern konnte sich vorderhand noch ganz ruhig gehen lassen. Zuweilen sah er von seiner Arbeit auf und betrachtete gedankenvoll die herabstürzenden Tropfen, die ihn wie ein bewegtes Gitter von der Außenwelt schieden und einfriedigten.

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[0153] selten Leute über die Gasse gehen, und diese nicht im vortheilhaftesten Aufzug; Weiber, die den veralteten Oberrock wie eine Kapuze über den Kopf gezogen haben, Männer in abgebleichtem Zwilchkittel und bräunlich gewordenem Schaufelhut. Die grauschmutzigen Wege und Plätze mit größern und kleinern Regenlachen gewähren kein sehr erfreuliches Bild, und das regelmäßige Prasseln und „Pflatschen“ macht auf die Dauer einen kaum anders als langweilig zu nennenden Eindruck. Glücklich diejenigen, die ihr Vergnügen nicht außen zu suchen haben, sondern in sich selbst und bei den Ihrigen finden! Solchen freilich klingt der fallende Regen wie Musik, und das bescheiden graue Tageslicht thut ihren Augen wohl; denn wer bei sich selbst daheim ist, dem wird Alles heimlich. Unser Bursche saß am Schneidertisch und nähte. Er war nicht glücklich; aber infolge des gefaßten Entschlusses und des Abschlusses mit der Welt hatte doch eine gewisse Zufriedenheit in ihm Platz genommen. Der dunkle Himmel und das eintönige Geprassel harmonirten mit seiner Stimmung und schufen ihm ein düsteres Behagen. Ergebung und Hoffnung erfüllten sein Herz; er wußte, was er zu thun hatte, und brauchte sich darum auch nicht zu eilen, sondern konnte sich vorderhand noch ganz ruhig gehen lassen. Zuweilen sah er von seiner Arbeit auf und betrachtete gedankenvoll die herabstürzenden Tropfen, die ihn wie ein bewegtes Gitter von der Außenwelt schieden und einfriedigten.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

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Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/153>, abgerufen am 18.05.2024.