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Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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beste Bier der Lammwirth schenke, kehrte er bei diesem ein.

Er setzte sich in eine Ecke und bemerkte mit Vergnügen, daß kein Mensch aus seinem Dorf in der Stube war, den die Langeweile vielleicht getrieben hätte, ihn durch Aufziehen aus seiner Ruhe zu stören. Das Bier war vortrefflich, ebenso stark als angenehm schmeckend, und er leerte ziemlich schnell seinen Maßkrug. Während des Laufens hatte sich auch das Mittagessen wieder in ihm "gesetzt", er fühlte nach Stillung des Durstes Appetit, aß zwei Groschenwürste und einen "Kemmicher" (Weißbrod mit Kümmel bestreut), ließ sich noch eine Maß geben und hatte ein Wohlgefühl wie seit langer Zeit nicht.

Als er so dasaß, kam eine Person aus seinem Dorf, aber eine ungefährliche -- ein gutes altes Weiblein. Tobias rief ihr gleich freundlich zu, sie möge sich zu ihm setzen. Die Alte zeigte sich von einem ungewöhnlichen Vergnügen belebt, und wie sie am Tisch ankam, rief sie: Ach, Tobias, es ist gut, daß ich dich treff'! Aber ich hab' eine Freud'! -- Nun, fragte der Schneider die Wittwe, die sich neben ihn setzte und ihre Röcke auf der Bank zurechtzog, was ist denn Gut's angekommen? -- Die Alte langte in ihre Seitentasche, zog ein zerknittertes Papier heraus und sagte: Was meinst jetzt, daß ich da hab'? -- Einen Brief, erwiderte Tobias. -- Ja, aber von wem und woher? -- Nun, vielleicht von Eurer Rebeck' in Augsburg! -- Nein, von mei-

beste Bier der Lammwirth schenke, kehrte er bei diesem ein.

Er setzte sich in eine Ecke und bemerkte mit Vergnügen, daß kein Mensch aus seinem Dorf in der Stube war, den die Langeweile vielleicht getrieben hätte, ihn durch Aufziehen aus seiner Ruhe zu stören. Das Bier war vortrefflich, ebenso stark als angenehm schmeckend, und er leerte ziemlich schnell seinen Maßkrug. Während des Laufens hatte sich auch das Mittagessen wieder in ihm „gesetzt“, er fühlte nach Stillung des Durstes Appetit, aß zwei Groschenwürste und einen „Kemmicher“ (Weißbrod mit Kümmel bestreut), ließ sich noch eine Maß geben und hatte ein Wohlgefühl wie seit langer Zeit nicht.

Als er so dasaß, kam eine Person aus seinem Dorf, aber eine ungefährliche — ein gutes altes Weiblein. Tobias rief ihr gleich freundlich zu, sie möge sich zu ihm setzen. Die Alte zeigte sich von einem ungewöhnlichen Vergnügen belebt, und wie sie am Tisch ankam, rief sie: Ach, Tobias, es ist gut, daß ich dich treff'! Aber ich hab' eine Freud'! — Nun, fragte der Schneider die Wittwe, die sich neben ihn setzte und ihre Röcke auf der Bank zurechtzog, was ist denn Gut's angekommen? — Die Alte langte in ihre Seitentasche, zog ein zerknittertes Papier heraus und sagte: Was meinst jetzt, daß ich da hab'? — Einen Brief, erwiderte Tobias. — Ja, aber von wem und woher? — Nun, vielleicht von Eurer Rebeck' in Augsburg! — Nein, von mei-

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[0159] beste Bier der Lammwirth schenke, kehrte er bei diesem ein. Er setzte sich in eine Ecke und bemerkte mit Vergnügen, daß kein Mensch aus seinem Dorf in der Stube war, den die Langeweile vielleicht getrieben hätte, ihn durch Aufziehen aus seiner Ruhe zu stören. Das Bier war vortrefflich, ebenso stark als angenehm schmeckend, und er leerte ziemlich schnell seinen Maßkrug. Während des Laufens hatte sich auch das Mittagessen wieder in ihm „gesetzt“, er fühlte nach Stillung des Durstes Appetit, aß zwei Groschenwürste und einen „Kemmicher“ (Weißbrod mit Kümmel bestreut), ließ sich noch eine Maß geben und hatte ein Wohlgefühl wie seit langer Zeit nicht. Als er so dasaß, kam eine Person aus seinem Dorf, aber eine ungefährliche — ein gutes altes Weiblein. Tobias rief ihr gleich freundlich zu, sie möge sich zu ihm setzen. Die Alte zeigte sich von einem ungewöhnlichen Vergnügen belebt, und wie sie am Tisch ankam, rief sie: Ach, Tobias, es ist gut, daß ich dich treff'! Aber ich hab' eine Freud'! — Nun, fragte der Schneider die Wittwe, die sich neben ihn setzte und ihre Röcke auf der Bank zurechtzog, was ist denn Gut's angekommen? — Die Alte langte in ihre Seitentasche, zog ein zerknittertes Papier heraus und sagte: Was meinst jetzt, daß ich da hab'? — Einen Brief, erwiderte Tobias. — Ja, aber von wem und woher? — Nun, vielleicht von Eurer Rebeck' in Augsburg! — Nein, von mei-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

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Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/159>, abgerufen am 18.05.2024.