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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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Nachtreter doch seinen Vormann übertroffen. Wenn die Natio-
nal-Zeitung aber ganz guten Glaubens die den Volksrechten un-
günstige Auslegung angenommen, so wollen wir es zur Ehre des
Staats-Anzeigers annehmen, daß seine Entrüstung nur über die
Möglichkeit einer solchen Auslegung ihn gegen seine volksthüm-
liche Schwester die Beschuldigung der Böswilligkeit ausstoßen
ließ. Der Artikel 108. ist also jedenfalls nur ein vorübergehen-
der; mit dem 109. hat er sich aus den Uebergangsbestimmungen
in die allgemeinen verirrt. Dann aber fragen wir: Darf ein
Ministerium am Jahresschluß die Gesetzgebung (von einer ver-
fassungsgründenden Versammlung gar nicht einmal zu reden) auf-
lösen, ehe ihm der Staatshaushalt des bevorstehenden Jahres be-
willigt worden? und später denselben einseitig erlassen?

Jch will in Bezug auf den Artikel 110. nicht von den Ver-
letzungen der Volksfreiheiten sprechen, welche ein feindlicher Ge-
neral sich auf dem Kriegsschauplatze erlauben zu müssen glaubt.
Denn im Kriege können die staatlichen Freiheiten überhaupt nicht
Platz finden. Auch im Bürgerkriege (und was ist der Aufruhr
Anderes, als ein Bürgerkrieg?) mag dasselbe geschehen. Der
Schutz der persönlichen Freiheit mag danach beschränkt werden,
wie in England. Aber warum die Preßfreiheit? Und jedenfalls
gehört die Zustimmung der Gesetzgebung dazu. Aber wo die
Verwaltung den Belagerungszustand Monate lang ohne die Ge-
setzgebung aufrecht erhalten darf, aber wo nach verschwundenem
oder gar unsichtbar gebliebenem Aufruhr ein Belagerungszustand
künstlich an den Haaren herbeigezogen wird, bloß um Preßfreiheit
Vereins- u. Versammlungsrecht zu beschränken, -- diese Errungenschaft
des Rückschritts zu bezeichnen, fehlt mir der Name. Denn sie wiegt
alle Märzfreiheiten auf, und setzt die Soldatenherrschaft und deren
Willkür an die Stelle des Rechts; oder vielmehr, die unum-
schränkte Willkür wird gesetzlich. Dies Schauspiel bietet Europa
seit dem Herbste des Jahres, das mit so vollen Blüthenknospen
des Frühlings begann. Paris, Mailand, Wien und Berlin, sie
leiden aus verschiedenen Gründen diese Unbill: Berlin gewiß am
unschuldigsten. Der Erfinder dieser -- göttlichen Errungenschaft,
die Andere freilich sehr teuflisch nennen, hat bereits den Lohn sei-
ner vielleicht absichtlich herbeigeführten Schlächterei geerntet. Ca-

Nachtreter doch ſeinen Vormann übertroffen. Wenn die Natio-
nal-Zeitung aber ganz guten Glaubens die den Volksrechten un-
günſtige Auslegung angenommen, ſo wollen wir es zur Ehre des
Staats-Anzeigers annehmen, daß ſeine Entrüſtung nur über die
Möglichkeit einer ſolchen Auslegung ihn gegen ſeine volksthüm-
liche Schweſter die Beſchuldigung der Böswilligkeit ausſtoßen
ließ. Der Artikel 108. iſt alſo jedenfalls nur ein vorübergehen-
der; mit dem 109. hat er ſich aus den Uebergangsbeſtimmungen
in die allgemeinen verirrt. Dann aber fragen wir: Darf ein
Miniſterium am Jahresſchluß die Geſetzgebung (von einer ver-
faſſungsgründenden Verſammlung gar nicht einmal zu reden) auf-
löſen, ehe ihm der Staatshaushalt des bevorſtehenden Jahres be-
willigt worden? und ſpäter denſelben einſeitig erlaſſen?

Jch will in Bezug auf den Artikel 110. nicht von den Ver-
letzungen der Volksfreiheiten ſprechen, welche ein feindlicher Ge-
neral ſich auf dem Kriegsſchauplatze erlauben zu müſſen glaubt.
Denn im Kriege können die ſtaatlichen Freiheiten überhaupt nicht
Platz finden. Auch im Bürgerkriege (und was iſt der Aufruhr
Anderes, als ein Bürgerkrieg?) mag daſſelbe geſchehen. Der
Schutz der perſönlichen Freiheit mag danach beſchränkt werden,
wie in England. Aber warum die Preßfreiheit? Und jedenfalls
gehört die Zuſtimmung der Geſetzgebung dazu. Aber wo die
Verwaltung den Belagerungszuſtand Monate lang ohne die Ge-
ſetzgebung aufrecht erhalten darf, aber wo nach verſchwundenem
oder gar unſichtbar gebliebenem Aufruhr ein Belagerungszuſtand
künſtlich an den Haaren herbeigezogen wird, bloß um Preßfreiheit
Vereins- u. Verſammlungsrecht zu beſchränken, — dieſe Errungenſchaft
des Rückſchritts zu bezeichnen, fehlt mir der Name. Denn ſie wiegt
alle Märzfreiheiten auf, und ſetzt die Soldatenherrſchaft und deren
Willkür an die Stelle des Rechts; oder vielmehr, die unum-
ſchränkte Willkür wird geſetzlich. Dies Schauſpiel bietet Europa
ſeit dem Herbſte des Jahres, das mit ſo vollen Blüthenknospen
des Frühlings begann. Paris, Mailand, Wien und Berlin, ſie
leiden aus verſchiedenen Gründen dieſe Unbill: Berlin gewiß am
unſchuldigſten. Der Erfinder dieſer — göttlichen Errungenſchaft,
die Andere freilich ſehr teufliſch nennen, hat bereits den Lohn ſei-
ner vielleicht abſichtlich herbeigeführten Schlächterei geerntet. Ca-

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[26/0036] Nachtreter doch ſeinen Vormann übertroffen. Wenn die Natio- nal-Zeitung aber ganz guten Glaubens die den Volksrechten un- günſtige Auslegung angenommen, ſo wollen wir es zur Ehre des Staats-Anzeigers annehmen, daß ſeine Entrüſtung nur über die Möglichkeit einer ſolchen Auslegung ihn gegen ſeine volksthüm- liche Schweſter die Beſchuldigung der Böswilligkeit ausſtoßen ließ. Der Artikel 108. iſt alſo jedenfalls nur ein vorübergehen- der; mit dem 109. hat er ſich aus den Uebergangsbeſtimmungen in die allgemeinen verirrt. Dann aber fragen wir: Darf ein Miniſterium am Jahresſchluß die Geſetzgebung (von einer ver- faſſungsgründenden Verſammlung gar nicht einmal zu reden) auf- löſen, ehe ihm der Staatshaushalt des bevorſtehenden Jahres be- willigt worden? und ſpäter denſelben einſeitig erlaſſen? Jch will in Bezug auf den Artikel 110. nicht von den Ver- letzungen der Volksfreiheiten ſprechen, welche ein feindlicher Ge- neral ſich auf dem Kriegsſchauplatze erlauben zu müſſen glaubt. Denn im Kriege können die ſtaatlichen Freiheiten überhaupt nicht Platz finden. Auch im Bürgerkriege (und was iſt der Aufruhr Anderes, als ein Bürgerkrieg?) mag daſſelbe geſchehen. Der Schutz der perſönlichen Freiheit mag danach beſchränkt werden, wie in England. Aber warum die Preßfreiheit? Und jedenfalls gehört die Zuſtimmung der Geſetzgebung dazu. Aber wo die Verwaltung den Belagerungszuſtand Monate lang ohne die Ge- ſetzgebung aufrecht erhalten darf, aber wo nach verſchwundenem oder gar unſichtbar gebliebenem Aufruhr ein Belagerungszuſtand künſtlich an den Haaren herbeigezogen wird, bloß um Preßfreiheit Vereins- u. Verſammlungsrecht zu beſchränken, — dieſe Errungenſchaft des Rückſchritts zu bezeichnen, fehlt mir der Name. Denn ſie wiegt alle Märzfreiheiten auf, und ſetzt die Soldatenherrſchaft und deren Willkür an die Stelle des Rechts; oder vielmehr, die unum- ſchränkte Willkür wird geſetzlich. Dies Schauſpiel bietet Europa ſeit dem Herbſte des Jahres, das mit ſo vollen Blüthenknospen des Frühlings begann. Paris, Mailand, Wien und Berlin, ſie leiden aus verſchiedenen Gründen dieſe Unbill: Berlin gewiß am unſchuldigſten. Der Erfinder dieſer — göttlichen Errungenſchaft, die Andere freilich ſehr teufliſch nennen, hat bereits den Lohn ſei- ner vielleicht abſichtlich herbeigeführten Schlächterei geerntet. Ca-

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/36>, abgerufen am 21.11.2024.