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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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rer Zeit, und findet ihn -- in der Charakterlosigkeit derselben.
Wo wir auch hinblicken mögen, nirgends zeigt sich uns ein fester
Punkt, überall nur die Auflösung, Zerrüttung, unsicheres Schwan-
ken. Unsere Zeit ist groß in ihrer zersetzenden Arbeit; und für
eine neue bessere Gestaltung aller Lebensverhältnisse müssen erst
noch die Principien und deren nothwendige Formen gefunden
werden. Darum arbeite Jeder in seiner Stellung nur für die
Neubelebung derselben nach dem Hauptprincipe der Zukunft, wel-
ches heißt: Freiheit der Persönlichkeit im sittlichen
Bunde.
"

Daß der Grundsatz der neuern Zeit die Verschmelzung jenes
Gegensatzes sei, hat vielen edlen Geistern unter uns vorgeschwebt,
und durch die meisten Schriften über die gesellschaftliche Frage
zieht sich dieser Gedanke als der Hauptfaden des Ganzen hin-
durch. Wenn keiner zu gehorchen braucht, wie in Zeiten der Ge-
setzlosigkeit, und doch Alle, zur Erhaltung der Ordnung, auf das-
selbe Ziel los steuern sollen, so ist dies nur möglich durch die
Erkenntniß jenes sittlichen Bandes, welches alle freien Personen
zusammenfaßt. Dieses Band ist kein äußeres Staatsgesetz, wel-
ches von dem Wesen der Person verschieden wäre. Sondern die-
ses innere Wesen, das in allen Menschen das gleiche ist, treibt
sie von Jnnen heraus, sich an einander zu schließen, Vereine zu
bilden, und so mit gemeinsamen Kräften die Zwecke eines Jeden
auszuführen, die er auf sich selbst beschränkt aufgeben müßte.
"Das im Laufe der Zeiten," sagt Mundt, "offenbar gewordene
Wort der Völkererlösung heißt Association, welche die Macht
des Einzelnen ist, im Verein mit Allen und durch Alle so stark
zu sein, wie Alle. Dies Gesetz der Association ist heut an die
Stelle des Gesetzes der Autorität unter den Völkern getreten.
Jn der Association hat sich das Gesetz der Autorität mit dem
Gesetze der Freiheit verbunden; und so wird die Jdee der Gleich-
heit und Brüderlichkeit aller Menschen nur wahrhaft in der Asso-
ciation, in dieser Vereinsgruppirung der Menschen zu bestimmten
Lebenszwecken, aufgerichtet werden können." Die Freiheit des
Einzelnen soll nicht getödtet, sie soll vergesellschaftet werden. Jn-
dem alle Meinungen und Thätigkeiten frei bleiben, so handelt
und denkt das Volk doch wie Ein einziger Mensch durch die ver-

rer Zeit, und findet ihn — in der Charakterloſigkeit derſelben.
Wo wir auch hinblicken mögen, nirgends zeigt ſich uns ein feſter
Punkt, überall nur die Auflöſung, Zerrüttung, unſicheres Schwan-
ken. Unſere Zeit iſt groß in ihrer zerſetzenden Arbeit; und für
eine neue beſſere Geſtaltung aller Lebensverhältniſſe müſſen erſt
noch die Principien und deren nothwendige Formen gefunden
werden. Darum arbeite Jeder in ſeiner Stellung nur für die
Neubelebung derſelben nach dem Hauptprincipe der Zukunft, wel-
ches heißt: Freiheit der Perſönlichkeit im ſittlichen
Bunde.

Daß der Grundſatz der neuern Zeit die Verſchmelzung jenes
Gegenſatzes ſei, hat vielen edlen Geiſtern unter uns vorgeſchwebt,
und durch die meiſten Schriften über die geſellſchaftliche Frage
zieht ſich dieſer Gedanke als der Hauptfaden des Ganzen hin-
durch. Wenn keiner zu gehorchen braucht, wie in Zeiten der Ge-
ſetzloſigkeit, und doch Alle, zur Erhaltung der Ordnung, auf daſ-
ſelbe Ziel los ſteuern ſollen, ſo iſt dies nur möglich durch die
Erkenntniß jenes ſittlichen Bandes, welches alle freien Perſonen
zuſammenfaßt. Dieſes Band iſt kein äußeres Staatsgeſetz, wel-
ches von dem Weſen der Perſon verſchieden wäre. Sondern die-
ſes innere Weſen, das in allen Menſchen das gleiche iſt, treibt
ſie von Jnnen heraus, ſich an einander zu ſchließen, Vereine zu
bilden, und ſo mit gemeinſamen Kräften die Zwecke eines Jeden
auszuführen, die er auf ſich ſelbſt beſchränkt aufgeben müßte.
„Das im Laufe der Zeiten,‟ ſagt Mundt, „offenbar gewordene
Wort der Völkererlöſung heißt Aſſociation, welche die Macht
des Einzelnen iſt, im Verein mit Allen und durch Alle ſo ſtark
zu ſein, wie Alle. Dies Geſetz der Aſſociation iſt heut an die
Stelle des Geſetzes der Autorität unter den Völkern getreten.
Jn der Aſſociation hat ſich das Geſetz der Autorität mit dem
Geſetze der Freiheit verbunden; und ſo wird die Jdee der Gleich-
heit und Brüderlichkeit aller Menſchen nur wahrhaft in der Aſſo-
ciation, in dieſer Vereinsgruppirung der Menſchen zu beſtimmten
Lebenszwecken, aufgerichtet werden können.‟ Die Freiheit des
Einzelnen ſoll nicht getödtet, ſie ſoll vergeſellſchaftet werden. Jn-
dem alle Meinungen und Thätigkeiten frei bleiben, ſo handelt
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[39/0049] rer Zeit, und findet ihn — in der Charakterloſigkeit derſelben. Wo wir auch hinblicken mögen, nirgends zeigt ſich uns ein feſter Punkt, überall nur die Auflöſung, Zerrüttung, unſicheres Schwan- ken. Unſere Zeit iſt groß in ihrer zerſetzenden Arbeit; und für eine neue beſſere Geſtaltung aller Lebensverhältniſſe müſſen erſt noch die Principien und deren nothwendige Formen gefunden werden. Darum arbeite Jeder in ſeiner Stellung nur für die Neubelebung derſelben nach dem Hauptprincipe der Zukunft, wel- ches heißt: Freiheit der Perſönlichkeit im ſittlichen Bunde.‟ Daß der Grundſatz der neuern Zeit die Verſchmelzung jenes Gegenſatzes ſei, hat vielen edlen Geiſtern unter uns vorgeſchwebt, und durch die meiſten Schriften über die geſellſchaftliche Frage zieht ſich dieſer Gedanke als der Hauptfaden des Ganzen hin- durch. Wenn keiner zu gehorchen braucht, wie in Zeiten der Ge- ſetzloſigkeit, und doch Alle, zur Erhaltung der Ordnung, auf daſ- ſelbe Ziel los ſteuern ſollen, ſo iſt dies nur möglich durch die Erkenntniß jenes ſittlichen Bandes, welches alle freien Perſonen zuſammenfaßt. Dieſes Band iſt kein äußeres Staatsgeſetz, wel- ches von dem Weſen der Perſon verſchieden wäre. Sondern die- ſes innere Weſen, das in allen Menſchen das gleiche iſt, treibt ſie von Jnnen heraus, ſich an einander zu ſchließen, Vereine zu bilden, und ſo mit gemeinſamen Kräften die Zwecke eines Jeden auszuführen, die er auf ſich ſelbſt beſchränkt aufgeben müßte. „Das im Laufe der Zeiten,‟ ſagt Mundt, „offenbar gewordene Wort der Völkererlöſung heißt Aſſociation, welche die Macht des Einzelnen iſt, im Verein mit Allen und durch Alle ſo ſtark zu ſein, wie Alle. Dies Geſetz der Aſſociation iſt heut an die Stelle des Geſetzes der Autorität unter den Völkern getreten. Jn der Aſſociation hat ſich das Geſetz der Autorität mit dem Geſetze der Freiheit verbunden; und ſo wird die Jdee der Gleich- heit und Brüderlichkeit aller Menſchen nur wahrhaft in der Aſſo- ciation, in dieſer Vereinsgruppirung der Menſchen zu beſtimmten Lebenszwecken, aufgerichtet werden können.‟ Die Freiheit des Einzelnen ſoll nicht getödtet, ſie ſoll vergeſellſchaftet werden. Jn- dem alle Meinungen und Thätigkeiten frei bleiben, ſo handelt und denkt das Volk doch wie Ein einziger Menſch durch die ver-

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/49>, abgerufen am 23.11.2024.